Die Geschichte wiederholt sich immer zweimal – das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce.
Nein, liebes MUWINS-Publikum, das ist nicht schon wieder einer jener unzähligen Vorstösse, meinem ewigen Favoriten Tragedy Looper endlich zum verdienten Durchbruch im Bewusstsein der deutschsprachigen Spieleszene zu verhelfen. Vielmehr handelt es sich um ein Zitat von Karl Marx – der wahrscheinlich selber nicht erwartet hätte, wie recht er damit hatte. Wie sollte er auch ahnen, dass Bob Woodward nach 48 Jahren 2020 wieder im Rampenlicht stehen würde!
… aber hat sich der gute Karl da vielleicht in der Reihenfolge vertan?

Unsere Schwäche für historische Spiele ist der MUWINS-Gemeinde sicher mittlerweile bekannt. Folglich hätten wohl nicht viele von euch darauf gewettet, dass Watergate (Matthias Cramer, Pegasus Spiele/Frosted Games) uns ewig aus dem Weg gehen kann. Allerdings: lassen wir die Geschehnisse aus dem Jahr 1972 vor dem heutigen Hintergrund Revue passieren, macht sich rasch ein unwillkürliches Schulterzucken bemerkbar, gefolgt von einem dezenten Gähnanflug und einem leise gemurmelten „so what?“. Damit ihr mich richtig versteht: Das liegt nicht etwa daran, dass die ganze Schose damals kein ausgewachsener Skandal gewesen wäre – aber der verkommt angesichts der gerade stattfindenden Tragödie zur Farce…
Um Watergate angemessen einschätzen zu können, loopen wir also zurück ins Jahr 1972. Wir glauben daran, dass Politiker grundsätzlich aufrechte Menschen sind, die das Wohl der Bevölkerung im Fokus haben, sich an die Spielregeln halten und dem Durchschnittsbürger intelligenzmässig sowieso meilenweit überlegen sind. In diese Gegenwart platzt Bob wie eine Bombe: Der Präsident hat gelogen!

Als Zeitungs(!)redakteur versuchen wir, genügend Beweise zu sammeln, um die Verbindung zwischen der Nixon-Administration und mindestens zwei Informanten nachzuweisen. Wir tun dies, indem wir genügend Beweise sammeln, um die Verbindung zwischen der Nixon-Administration und mindestens zwei Informanten nachzuweisen. Und nein, ich habe mich nicht verschrieben!
Die Beweise bestehen aus Barchecks für Nixons Wiederwahlkampagne, Grundrisszeichnungen des Watergate-Komplexes und Mitschriften von geheimen Tonbandaufnahmen. Die juristischen Fachausdrücke für diese Beweismittel lauten „blaue Plättchen“, „gelbe Plättchen“ und „grüne Plättchen“. Und tatsächlich: Auf das an ein kriminalistisches Fadenbild erinnernde Spielfeld platzieren wir die erwähnten Plättchen möglichst so, dass eine durchgehende, bunte Spur von Nixon im Zentrum zu einem aktiven Informanten am Rand entsteht.

Vielleicht sind euch ja eben die Begriffe „durchgehend“, „bunt“ und „aktiv“ aufgefallen. Natürlich gibt Nixon Gegensteuer und versucht, alle diese Eigenschaften zu verhindern, indem er blockiert, zensiert (also bunte Plättchen schwarz einfärbt) oder gar Informanten neutralisiert. Sein Ziel ist, bis zum Ende der Amtszeit durchzuhalten.

Nun wäre Watergate ein eher lasches Spiel, wenn wir diese Plättchen einfach abwechslungsweise platzieren würden. Glücklicherweise hat sich Matthias Cramer aber für einen weitaus pfiffigeren Mechanismus entschieden, der mit Karten zu tun hat – also jenen Helferlein, die uns schon in unzähligen anderen historischen Spielen begeistert haben, weil sich mit ihrer Hilfe vergangene Ereignisse immer und immer wieder (merkt ihr schon, wie es loopt?) so schön nacherleben lassen.

Die Rezeptur ist bekannt. Deshalb, ohne ins Detail zu gehen: Die Kontrahenten verfügen über zwei separate Kartendecks mit zwar nicht identischen, aber symmetrischen Kartentypen. Viele zeigen Ereignisse, dazu kommen einige Handlanger. Nixon versucht seine Spuren mit Hilfe von „Mitverschwörern“ zu verwischen, der Redakteur hetzt hingegen Journalisten auf des Gegners Fährte. Und wie so oft lässt sich jede Karte neben einem starken Hauptereignis auch alternativ verwenden um Beweismittel zu sichern, das Momentum auf die eigene Seite zu ziehen oder die Initiative zu erobern, beziehungsweise zu behalten.
Um drei zufällig gezogene Beweismittel (sowie die zwei weiteren Marker) balgen wir uns in Seilzieh-Manier Runde um Runde, um die Plättchen so auf dem Spielfeld zu platzieren, dass die geforderten Verbindungen entstehen, beziehungsweise verunmöglicht werden. Thematisch besonders schön: Nur Nixon weiss zu Beginn jeder Runde, in welchem Keller er welche Leichen vergraben hat – also welche Plättchenfarben gerade überhaupt zu holen sind. Wird eines der Beweismittel an die Öffentlichkeit gezerrt (also irgendwie auf der Leiste bewegt), wird es allerdings sofort aufgedeckt.

Die von uns Spielern so geliebten Bredouillen sind auch in diesen Kartendecks reichlich vorhanden. Spiele ich Alexander Butterfield als Ereignis, um mir den Informanten zu sichern? Dann ist diese Karte allerdings aus dem Spiel. Stattdessen könnte ich mit den starken vier Einflusspunkten Nixon eine bereits verschollen geglaubte Tonbandaufnahme abjagen – mit dem Risiko, dass Butterfield später „unpässlich“ ist, wenn ich ihn das nächste Mal kontaktiere…

In meiner Rezension habe ich 13 Tage als „knifefight in a phone booth“ bezeichnet. Dieses Gefühl stellt sich bei Watergate nicht im gleichen Ausmass – oder sagen wir allenfalls schleichend – ein. Schliesslich steht ja auch nicht ganz so viel auf dem Spiel: Statt des Untergangs der menschlichen Zivilisation halt ein weiterer Skandal im Weissen Haus. Aus Zukunfts-Sicht (2020): Jänusode. Vor allem aber hat man mehr Zeit – bewegt sich nicht ganz so andauernd am Abgrund. Zwei der sieben potentiellen Informanten zu verlieren fühlt sich für den Redakteur noch nicht verheerend an. Aber dann sind es auf einmal drei, und der Redakteur erinnert sich leise daran, dass er Verbindungen zu zwei der übrigen vier konstruieren muss, deren Telefonnummern er natürlich gerade nicht zur Hand hat. Und als Nixon plötzlich ausgerechnet jenen Informanten schwärzt, zu dem eine vielversprechende Verbindung kurz vor der Vollendung stand, bricht beim Redakteur doch noch akut Angstschweiss aus.

Nixon steht aber ebenso unter stetig steigendem Druck. Verliert der Präsident an Momentum, schaltet der Redakteur zunehmend stärkere, einmalige Aktionen frei, die etwa bereits sicher verschüttet geglaubte Informationen unangenehmerweise wieder ans Tageslicht befördern – und im dümmsten Fall damit sogar eine Verbindung zu einem Informanten vervollständigen. Durch die Veröffentlichung von Beweisstücken werden die Verbindungen unweigerlich zunehmend greifbarer und damit gefährlicher. Die Dienste der hilfreichen Mitverschwörer können durch Enthüllungen oder Massendemonstrationen ein schiefes Licht auf die Administration werfen – was dann natürlich bedeutet, dass man diese Leute gar nie gekannt hat….
Der Vergleich von Watergate zu anderen Titeln aus der Sparte „zurück in die Tragödie“ drängt sich auf. Die Spieldauer ist etwas länger als bei Eiserner Vorhang oder 13 Tage, bei vergleichbarer (niedriger) Komplexität. Es ist deutlich kürzer als Wir sind das Volk, erreicht aber natürlich bei weitem nicht dessen Tiefe. Direkte Vergleiche zu Twilight Struggle oder gar der COIN-Serie lassen wir aussen vor – diesen Anspruch hat es auch gar nicht. Wie bei allen diesen Titeln gilt allerdings auch hier: Wer die Karten kennt, ist klar im Vorteil.

Nachdem die direkte Konkurrenz nun genannt ist, vergessen wir sie gleich wieder, denn Watergate überzeugt unabhängig von diesen Vergleichen mit äusserst fein aufeinander abgestimmten Kartendecks und die Verbindung mit dem innovativen Platzieren von Beweismitteln. Da kann ein einzelnes blaues Plättchen – Verzeihung, eine Spendenquittung – plötzlich das Zünglein an der Waage spielen und entscheidend für die Zukunft der USA werden. Eine geschickt eingesetzte anonyme Quelle kann uns Zugang zu einem bereits abgeschriebenen Informanten verschaffen, oder Nixon schafft es hauend und stechend bis ans Ende seiner Amtszeit. Fast alle unserer Partien begannen eher gemächlich, um schliesslich höchst dramatisch auf Messers Schneide zu enden. Nein, Watergate ist definitiv keine Farce!