Dass sich im Weltraum so allerlei unansehnliche Kreaturen tummeln, ist ja inzwischen bekannt. Anlässlich der letzten Präsidentschaftswahlen in den USA wurde aber deutlich, dass auch die gute alte Mutter Erde nicht vor schleimigem Getier sicher ist. Und wer weiss, was ihr die Zukunft noch bringt…
New Angeles (James Kniffen, Fantasy Flight Games; deutsche Ausgabe: Asmodee) wagt diesbezüglich eine eher düstere Prognose, in welcher sich die Vision des momentan noch amtsinhabenden POTUS zumindest im namensgebenden Megamoloch in Ecuador durchgesetzt hat: Grosskonzerne regieren die Stadt und halten die Fäden in der Hand. Auf den ersten Blick funktioniert das gar nicht einmal so schlecht, schliesslich beleben zufriedene Kunden das Geschäft und so haben wir als Konzernchefs (ja, was habt ihr denn gedacht, wen wir hier darstellen?) durchaus ein gewichtiges Interesse daran, die Bevölkerung bei Laune zu halten. Ob Medienunternehmen, Pharmariese oder Baugigant – Stadt, Firmen und Protagonisten sind aus dem Android-Universum bekannt, wobei dem Weltraumlift „The Beanstalk“, beziehungsweise dessen Startplattform „The Root“ mindestens thematisch eine zentrale Rolle im Spiel zukommt.
Die Massen dürsten dabei, in immer neuer Gewichtung, nach Konsumgütern, Unterhaltung, Technologie, Energie und Finanzen – und eigentlich ist alles wie heute, wäre da nicht der Umstand, dass statt chinesicher Kinder mittlerweile Androiden unser iPhone CMXLIII zusammenbasteln. Und nebenher auch sonst praktisch alles erledigen.

Dass das bedingungslose Grundeinkommen für menschliche Bewohner dabei mehr und mehr zusammenschrumpft, ist also kein Wunder, und so kommt es, dass sich – trotz schöner neuer Welt – immer wieder einige Unzufriedene lautstark bemerkbar machen und unsere Maschinerie lahmzulegen versuchen. Immerhin: Auf der anderen Seite gibt es dann doch noch Menschen, die nicht nur herummaulen, sondern Eigeninitiative und Unternehmergeist zeigen. Dummerweise tun sie dies in Form mafiöser Organisationen, indem Güter zu eigenen Zwecken abgezweigt werden, bevor sie den Markt erreichen. Wir können uns also auch mit dieser Gruppierung nicht wirklich anfreunden.
„Die unausweichliche Folge des Einsatzes von Androiden als Arbeitskräfte ist Arbeitslosigkeit unter der menschlichen Bevölkerung, die wiederum zu mehr Kriminalität führt.“
(Karte aus der Kategorie „Arbeitskräfte“)
Glücklicherweise sind wir dem undankbaren Gesindel aber nicht völlig schutzlos ausgeliefert. Echte Polizisten gibt es in New Angeles zwar keine, ihren Platz haben aber unsere bestens ausgebildeten und hoch motivierten, privaten Sicherheitskräfte (Prisec) eingenommen.

Ihre Aufgabe ist es, unter unserer Anleitung die MHGA (Make Humans Great Again)-Störenfriede und Kriminellen von unseren wichtigen Produktionsstätten fernzuhalten. Und so nebenher kümmern wir uns ausserdem auch noch um Seuchenausbrüche, erhöhen die Produktivität gewisser Stadtteile und versuchen dabei, ein klein wenig besser abzuschneiden als einer unserer Konkurrenten.
„Es ist keine Festnahme im eigentlichen Sinn, weil wir strenggenommen keine Cops sind. Aber die Täter sind ja auch keine Verbrecher im eigentlichen Sinne, also würde ich sagen, das passt schon.“
(Karte aus der Kategorie „Sicherheit“)
„Wie jetzt, als EINER unserer Konkurrenten?“, fragt ihr höchst erstaunt. Ja, New Angeles ist BEINAHE ein kooperatives Spiel. Es ist zwar im Interesse (fast) aller Beteiligten (zur Ausnahme kommen wir später), wenn wir den Moloch am Brummen halten, aber so ganz selbstlos gehen wir dabei doch nicht zu Werke. Zu Beginn einer Partie erhalten wir in Form eines Auftrages einen direkten Konkurrenten zugelost, den wir als Siegbedingung in Geldangelegenheiten zu schlagen haben. „Du gewinnst, wenn Du am Ende mehr Geld auf der hohen Kante hast als Yves“. Das ist alles. Da werden weder Rohstoffe in Siegpunkte getauscht noch Schafe mit Edelsteinen multipliziert. Mit wieviel Kohle am Ende Andreas, Peter oder Etienne dastehen (wir dürften New Angeles sogar noch mit Matthias – also bis zu sechst -spielen), ist mir schnurzegal – es gibt weder zweite noch weiter rückwärtig gelegene Plätze. Wer seinen Auftrag nicht versemmelt, hat gewonnen, Punkt. Es ist also möglich, dass praktisch alle Beteiligten gewinnen – bis auf die eine Firma mit dem geringsten Geldbetrag.

Und dann gibt es da eventuell noch einen Föderalisten…
Wer diesen Auftrag zieht, will die Stadt im Chaos sehen und damit der Föderation, die schon lange ein Auge auf unsere Geldmaschinerie geworfen hat, Tür und Tor für eine Übernahme öffnen. Allerdings ist auch dies für die entsprechende Firma nur ab einem gewissen Kontostand gewinnversprechend, was bedeutet, dass man auch mit dieser Rolle an erfolgreichen, gewinnbringenden Deals interessiert ist und sich mindestens zu Beginn kooperativ zeigt. Ob die Rolle überhaupt jemand innehat ist unklar, aber eher früher als später fliegen entsprechende Verdächtigungen üblicherweise in allen Himmelsrichtungen über den Tisch.

„Na, dann ist man halt im Allgemeinen lieb, ausser man ist Föderalist, dann outet man sich irgendwann“, denkt ihr euch jetzt. Und fast hättet ihr damit recht, gäbe es nicht noch die Zwischenziele. Dabei handelt es sich um persönliche Aufträge, deren Erfüllung eine Menge Finanzen einbringt, die aber meist dem allgemeinen Interesse entgegen laufen. Falls sich also jemand gerade wieder wie der letzte A….ndroid verhalten hat, kann das daran liegen, dass man es grundsätzlich mit dem Föderalisten zu tun hat – es kann aber auch lediglich eine zwischenzeitliche geistige Verwirrung / Gewinnmaximierung dafür verantwortlich sein, die sich demnächst wieder legt.
„Pass auf, dass du seine Schokoladenseite erwischst. Falls er eine hat.“
(Karte aus der Kategorie „Medien“)
Bei aller Anlehnung an Pandemie (böse Tokens und Figuren schwappen auf andere Stadtbezirke über) und Battlestar Galactica (jede Firma ist auf Aktionskarten bestimmter Gattungen spezialisiert) entwickelt New Angeles ein ganz eigenes Spielgefühl. Denn letztlich betreiben wir „nur“ Politik – diese jedoch mit Klauen, Zähnen und allem, was sonst dazugehört. Wer am Zug ist, schlägt eine seiner Aktionskarten als „Massnahme“ vor. Reihum dürfen Gegenvorschläge eingereicht werden. So dies geschieht, erfolgt eine Abstimmung – andernfalls wird die vorgeschlagene Massnahme akzeptiert und durchgeführt. Wer auch immer sich durchsetzt, erhält einen dauerhaften Vorteil (und der hat es meist in sich!) als Erfolgsprämie.


Ihr merkt vielleicht schon, wo der Android begraben liegt: Nehmen wir an, Yves ist der CEO von Jinteki, einer Firma, die ihr Geld im pharmazeutischen Bereich verdient. In New Angeles geht eine Seuche um, die unsere momentan wichtigen Produktionsbezirke lähmt. Yves macht darauf aufmerksam, dass er mittels einer Notmassnahme die Situation auf einen Schlag unter Kontrolle bekommen könnte. Dass er dabei haufenweise Kohle scheffelt, ist ein angenehmes Nebenprodukt, das er an dieser Stelle nicht speziell erwähnt. Aber zugegeben – die Quarantäne würde Sinn machen. Nur eben: Damit zieht er nun ausgerechnet Gurren Imaishi auf seine Seite, den berüchtigten Finanzguru, der ihm gleich nochmal fünf Millionen bringt. 13 Millionen sind eine Menge Geld, die ich erstmal wieder einholen muss. Ich hätte also eigentlich allen Grund, mich gegen sein Vorhaben zu stemmen – nur verspiele ich damit jegliche Glaubwürdigkeit den anderen Unternehmen gegenüber, werde als Föderalist abgestempelt, bei meinen zukünftigen Vorschlägen kategorisch abgewatscht und Peter (Peter ist immer Föderalist/Hitler/Werwolf – ausser wenn Michi mitspielt) lacht sich ins Fäustchen. Vielleicht sollte ich ihm also doch besser einen Deal anbieten? Nur… habe ich dazu überhaupt einen Trumpf im Ärmel? Hätte ein allfälliger Gegenvorschlag von mir überhaupt eine Chance auf eine Mehrheit?

Obwohl man in New Angeles üblicherweise von maximal zwei direkten Gegnern ausgehen muss, lebt das Spiel von der Interaktion und den politischen Spieler- und Klüngeleien. Die Entscheidungen zwischen tatsächlich aussichtsreichen Gegenvorschlägen oder lediglich kartenfressenden Nebelgranaten, zwischen günstigen und ungünstigen Zeitpunkten für Vorstösse, zwischen „ich gebe dir und du gibst mir“ sind zentrale Spielelemente – die eigentlich simplen Mechanismen des Spiels entfalten ihren Reiz trotz des üppigen Materials vor allem neben sowie kreuz und quer über dem Tisch in Form von Verhandlungen, Deals und Absprachen.
„Frische Farbe und eine neue Fassade, mehr braucht’s nicht.“
(Karte aus der Kategorie „Bau“)
Ja, das kann auch ein wenig ausufern – in diesem Fall dauert New Angeles vielleicht einen Tick länger als es sollte. Aber auch wenn die letzte Viertelstunde etwas zuviel des Guten war, die vorangegangenen 150 Minuten waren es wert! Thema wie Mechanismen sind (trotz der erwähnten Anleihen) erfrischend anders und ergeben ein rundum spannendes, auf Sci-Fi- wie Politik-Fans zugeschnittenes Spielerlebnis.
New Angeles ist zwar ein Städtename – aber es ist ja auch kein deutsches Spiel.
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