Wikinger gegen Engländer statt Letztere gegen Rebellen. Ich könnte es mir nun einfach machen und auf unsere frühere Rezension zum Thema „amerikanische Unabhängigkeit“ verweisen – was ich hiermit getan habe. Da aber die Wikinger anlässlich diverser Spiele-Events mit schöner Regelmässigkeit ihre plündernde und brandschatzende Rolle spielen, sind wir es euch quasi schuldig, uns ein wenig ausführlicher mit den wilden Purschen zu befassen. Die haben sich das – trotz der unleugbaren Ähnlichkeiten zu den älteren Titeln – nämlich redlich erkämpft.

Vikings-Gucker wissen: Die historischen Nordmänner haben sich weder Insel bauend noch Tetris spielend über halb Europa (und darüber hinaus) ausgebreitet. Wer statt der weichgespülten Interpretationen angemessen wilde, kampfeslustige Haudegen bevorzugt, liegt hier genau richtig. Denn wenn die Nordländer von einer „Studienreise“ sprechen, dann endet die erfahrungsgemäss mit verringerten Bevölkerungs- und Bruttosozialproduktzahlen beim Studienobjekt.
Zu den besonders beliebten Ausflugszielen gehörte dabei England – aufgrund der geografischen Nähe sozusagen als Trainingscamp für spätere Weiterbildungen. Erster historischer Zwischenhalt war das Kloster Lindisfarne, dessen Plünderung noch als Guerilla-Operation bezeichnet werden kann. Die Männer aus dem Norden langten zünftig zu und verschwanden so schnell, wie sie aufgetaucht waren. Der anhaltende Erfolg solcher Unternehmungen verleitete aber mehr und mehr dazu zu kommen, um zu bleiben. Ziel der nun regelmässig einfallenden „grossen Heere“ war nicht mehr ausschliesslich Beute, sondern auch Land.
Die aktuelle politische Situation in England zeigt, dass man auf der Insel zu pointierten Meinungsverschiedenheiten neigt, und diese gern auch öffentlich austrägt. Da das schon vor 1141 Jahren nicht anders war, stand den Invasoren keine gefestigte Macht, sondern allenfalls schwache lokale Miliz gegenüber. Neben den zweifellos vorhandenen eigenen kämpferischen Qualitäten, dürfte auch dieser Umstand dazu beigetragen haben, dass die wilden Horden die Ländereien scheinbar unbesiegbar überrollten und damit England beinahe in die Bedeutungslosigkeit verbannten. Aber: Was der Brexit demnächst erreicht, gelang den Wikingern nicht, denn da war ja noch Alfred…
Wikinger 878 A.D.: Angriff auf England (von Beau Beckett, Dave Kimmel & Jeph Stahl; Academy Games) lässt uns dieses zunächst ungleiche Duell (das sei schon verraten) höchst unterhaltsam nacherleben. Und wie gesagt, tut es dies als erster Vertreter der Birth of Europe-Serie, indem es sich grundsätzlich des Regelwerks seiner Vorgänger aus der Birth of America-Reihe bedient, dabei aber wiederum die entscheidenden Anpassungen und Besonderheiten einbringt, um den Konflikt auf einfachstem Niveau adäquat und spannend abzubilden.

Zu diesen Spezialitäten gehört, dass die Wikinger kaum Zeit mit Spielvorbereitungen verbringen. Als Novum der Serie ist zu Beginn einer Partie nämlich lediglich eine Seite in England präsent. Trotz der oben erwähnten Zersplitterung der englischen Partei besteht diese hier lediglich aus zwei Fraktionen, die intraengländischen Querelen werden allerdings durch Ereignisse dargestellt, so dass auch dieser Aspekt enthalten ist.

Hach, ich Schlingel – ich war eben nicht ganz ehrlich zu euch! Genau genommen stehen den englischen Thegn und Housecarls – ebenfalls ein Novum – als dritte Fraktion nämlich die Fyrd zur Seite, die automatisch als Unterstützung eingreifen, wenn um eine englische Stadt gerungen wird. Wobei „eingreifen“ ein starkes Wort ist, meistens beschränkt sich der Beitrag der Bauern nämlich auf „wegrennen“. Dennoch – das Gejohle am Tisch ist entsprechend gross, wenn es dem landwirtschaftsgerätebestückten Wikingerfutter – statistischem Ausreisser sei Dank – doch einmal gelingt, eine ausgewachsene Berserkerarmee in die Flucht zu schlagen.

„Huch, Berserker“, ruft ihr verängstigt? Ja, die unerschrockenen (weil zugedröhnten) Eliteeinheiten sind eine der beiden Invasorenfraktionen (passenderweise in Rot) – und gleichzeitig die schlagkräftigste. Ihnen zur Seite stehen, in elegantem Schwarz, die handelsüblichen, dabei aber nur wenig schwächeren Durchschnittswikinger. Und natürlich deren Anführer.

Vikings-Gucker kennen und schätzen (oder verabscheuen) sie – hier trefft ihr sie wieder: Ragnar Lothbrook, Lagertha, Rollo, Björn Ironside, Ivar the Boneless und all die anderen Rabauken. Der mit ihnen verbundene Anführermechanismus darf getrost als wichtigste Systemanpassung bezeichnet werden. Einen der Studienreiseleiter (in teilrandomisierter Reihenfolge) erhalten die Nordmänner jede Runde, inklusive einer fast unbesiegbar erscheinenden Wikingerhorde und der Information, an welcher Küste diese Ausgabe der Reisegruppe anlanden darf. Und dann tut sie das und zieht plündernd und brandschatzend durch England, denn anders als führungslose Einheiten werden Touristengruppen mit Reiseleitern durch Kampfhandlungen nicht gestoppt – nur allenfalls verlangsamt.
Die Wikinger gewinnen die Partie durch die Eroberung von Städten: 14 davon bedeuten den sofortigen Kollaps der englischen Seite, ansonsten genügen bei Spielende deren neun. Auch die Engländer können einen automatischen Sieg erringen, was dann der Fall ist, wenn sie sämtliche Nordmänner von der Karte tilgen (die Regelschreiber zeigen also definitiv Sinn für Humor). Ansonsten endet das Spiel, wie gehabt, durch beide ausgespielten Waffenstillstandskarten einer Seite, frühestens aber nach der fünften Runde, also durch den Vertrag von Wedmore.

Eigentlich bleibt ja, neben den erwähnten Neuerungen, vieles beim Alten: Die Teamarbeit macht ungebrochen Spass, und natürlich werden kübelweise Würfel gerollt. Die zufällige Spielreihenfolge kann nach wie vor matchentscheidend sein und in Form eines glücklichen Doppelzugs auch dem geprügeltsten Engländer manchmal zu neuem Glanz verhelfen – was völlig egal ist, weil man bis dahin längst für jegliche mechanischen Schwächen durch puren Spielwitz entschädigt worden ist. Wem die früheren Titel gefallen haben, darf also auch hier getrost zugreifen.
Aber… braucht man die Wikinger dann überhaupt?

Man braucht! In 1775 waren es die Staatenmechanik und die opportunistischen Indianer, in 1754 die Forts – trotz der hohen Schnittmenge an Spielmechaniken entwickelt auch das Engländer-/Wikingerepos im Vergleich mit den anderen Titeln eine ganz eigene Dynamik. Zunächst einmal löst jeder neue Wikingeranführer auf der englischen Tischseite panische Flucht- und Fluchreaktionen aus. Zu gewaltig und zahlreich erscheinen die einfallenden Horden, zu verstreut, unorganisiert und – seien wir ehrlich – schmalbrüstig die eigenen militärischen Kräfte. Den ersten touristischen Anstürmen hat man denn auch entsprechend wenig entgegenzusetzen – bis sich die Wucht der scheinbar unaufhaltsamen Invasorenarmee dann eben doch in der englischen Landschaft verliert und knirschend zum Stehen kommt. Und dann bemerkt man erfreut, dass da immer noch einiges an England übrig ist. Natürlich, die nächste Invasion lässt nicht lange auf sich warten, doch es wird ihr ähnlich ergehen. Das ist der Moment für erste Nadelstiche, eventuell sogar Rückeroberungen. Und irgendwann prügelt man sich, entgegen aller Erwartungen, dann eben doch fast auf Augenhöhe, was die Bühne für Alfred vorbereitet, der in Runde 5 dem Spiel beitritt. Als einziger englischer Anführer glänzt er nicht mit einer besonders schlagkräftigen Armee, er hat aber das Potential, in diesem (hoffentlich) mittlerweile höchst zerbrechlichen Gleichgewicht des Kräftemessens, das Zünglein an der Waage zu spielen.

Wikinger 878 A.D.: Angriff auf England wurde ab Kickstarter mit einer Reihe von Erweiterungen geliefert – manche davon beinhalten erfreuliche Abwechslung in Form alternativer Spielziele (Kirchen plündern, Siedlungen errichten), andere sind lediglich ein Beispiel dafür, dass nicht jede Erweiterung wirklich nötig ist oder vor der Veröffentlichung ausreichend getestet wurde. Letztlich erhält man aber bereits mit dem Grundspiel das volle Wikingervergnügen, und zwar eines, das den Namen auch verdient! Das zusätzliche Gedöns braucht’s nicht wirklich – mit der Einschränkung, dass die grosse Karte und die Leaderfiguren schon zünftig etwas her machen, sofern man Wert auf die Optik legt und noch zwei, drei Farben und Pinsel in der Schublade vorrätig hat.
Andere Nachwuchseroberer meinen…
Yves: Die Engländer sind viel zu stark! Mit ihrer Seemacht können sie die ganze Küste sichern. Die Wikinger sind zu mächtig! Ihrer Kampfkraft ist nichts entgegenzusetzen. Die Nordmänner können ihren Sieg nur selber verhindern. Die Fyrd können die Schlachten viel zu sehr beeinflussen (Spass beiseite, das hat noch nie jemand behauptet!). Bei keinem anderen Spiel, vielleicht noch bei der COIN-Reihe, werden die Diskussionen NACH der Partie so intensiv geführt, wie bei Vikings 878. Hätten wir vielleicht London angreifen sollen? Oder besser Liverpool? Oder hätten wir uns lieber besser in Frankreich niederlassen sollen? Wir erleben Geschichte neu! Da zudem noch all das Wikingerzeugs in den letzten Jahren sehr populär geworden ist, kennen wir die einzelnen Akteure auch persönlich. Kurz zusammengefasst: Lasst die Wikinger nur euer Spielregal erobern! Es lohnt sich. Übrigens, für Nr. 2 der „Birth of Europe“-Reihe wünsche ich mir die Perserkriege. Laut wird mein Schlachtruf durch die Hallen schallen: „This is Sparta!“
Matthias: Kooperative Spiele sind schön und kompetitive sind spassig. Teamspiele sind beides!! Grosse, epische Teamspiele gibt es für meinen Geschmack zu wenige, darum braucht man 878 Vikings im Regal. Nebenbei ist es auch noch eine wirklich gelungene Fortsetzung von Academy Games‘ Spielsystem. Die strategischen Besprechungen unter den Vertretern einer Fraktion geben den Spielern das Gefühl, höchst persönlich mit Alfred und Uthred am Witan teilzuhaben.