Mit Freunden und Kolleginnen eine Story erleben und dabei Rätsel lösen – während man sich dazu vor einiger Zeit noch nach einem nahe gelegenen Escaperoom umschauen musste, werden die heimischen Wohnzimmertische mittlerweile von entsprechenden Brettumsetzungen geradezu überschwemmt. Ihr Anliegen: Zumindest ein annähernd verwandtes Feeling in die eigenen vier Wände zaubern! Über einige Vertreter des Genres und deren Erfolgsraten haben wir bereits berichtet – braucht es nun auch noch Escape Tales: The Awakening?
Ja, es braucht.
Ach – ihr möchtet gern noch Genaueres wissen? Und das möglichst spoilerfrei? Das sind hohe Ansprüche, aber gut, versuchen wir’s. Ich biete euch an, dass ihr hier nichts erfahrt, das ihr vor eurer ersten Aktion einer Partie nicht ohnehin mitkriegen würdet. Deal?
Dass ein Spiel aus einer Serie, die sich Escape Tales nennt, den Fokus stärker als andere Fluchtspiele auf die Hintergrundgeschichte legt, scheint naheliegend (umso mehr, da es sich selber explizit als „story driven Escape Game“ bezeichnet). Tatsächlich gelingt dies The Awakening – wenn auch vielleicht nicht ganz so, wie man es erwarten würde.

Zunächst einmal wäre da die kurze Eröffnungsstory: Wir erfahren, dass wir Samuel heissen, 35 Jahre alt sind (hach, das waren Zeiten) – und dass unsere Tochter Lizzy im Koma liegt (futsch ist die Stimmung!). Die Ärzte wissen nicht weiter, aber aus der Zeitung erfahren wir von einem ähnlichen Fall, bei dem es um einen Jungen ging, der „plötzlich“ wieder zu Bewusstsein kam. Wir nehmen mit dessen Vater Kontakt auf, der uns erzählt, er habe seinen Sohn mit Hilfe eines Rituals wieder erweckt – eines Rituals, dessen Durchführung wohl nicht so ganz kosten- und gefahrlos zu sein scheint…
Bereits in der Einleitung wird klar, dass wir in The Awakening nicht etwa aus einer morschen Hütte ausbrechen, uns ins Alte Ägypten begeben oder einen verrückten Professor sabotieren. Die Stimmung ist stattdessen von Beginn an düster und deprimierend, die Thematik geht sofort ans Eingemachte. Dies, obwohl man den sprachlichen Stil der Einführung als ein wenig gehetzt bezeichnen könnte. Der kurze Text ist keine literarische Meisterleistung, transportiert lediglich die benötigten Informationen und will möglichst rasch zur Sache kommen. Etwas mehr Einfühlungsvermögen hätte hier nicht geschadet, aber angesichts dessen, was noch auf uns wartet, fällt der holprige Start nicht allzu negativ ins Gewicht.
The Awakening spielt sich hauptsächlich auf einem kleinen Brett ab, das unseren momentanen Aufenthaltsort zeigt. Wir sind hier keinerlei echtzeitabhängigen Mechanismen unterworfen, sondern analysieren und Rätseln in Ruhe und registrieren mit Aktionsmarkern, welche Bereiche der aktuellen Lokalität wir untersuchen. Eine kleine Übersichtskarte verweist uns dann auf den entsprechenden Abschnitt im Storybook, wo wir die Ergebnisse unserer Nachforschungen erfahren. Oft handelt es sich um gefundene Gegenstände oder „Detailaufnahmen“ der untersuchten Bereiche, die wir in Form von Karten erhalten, welche wiederum zum Lösen der Rätsel benötigt werden.

Ein wenig erinnert das an die guten, alten Point-and-Click-Abenteuerspiele – mit der Eigenheit, dass die Anzahl der Clicks hier begrenzt ist. Sind alle Aktionsmarker platziert, und man hat es noch nicht geschafft, den Raum zu verlassen, muss wohl oder übel eine „Doom-Karte“ gezogen werden, um weitere Aktionen zu erhalten. Zu Beginn sind die relativ harmlos, später kann es durchaus passieren, dass man beispielsweise einen hart erkämpften Gegenstand wieder abgeben muss.
Mit „erkämpft“ meine ich allerdings ausschliesslich das eingesetzte Hirnschmalz, denn auch in diesem Escape-Spiel werden wir nicht wirklich handgreiflich, sondern lösen in erster Linie Rätsel. Und noch eins. Und noch eins… Trotzdem: Was uns dabei antreibt, ist der Drang, mehr von der Story zu erfahren und vor allem, unserer Kleinen zu helfen. Die Informationen zur Geschichte werden uns in spärlichen Dosen verabreicht – und es sei hier nur soviel verraten: Die bereits zu Beginn düstere Stimmung driftet weiter ab, The Awakening bringt Charaktere hervor, die auch in Cryptid ihre Daseinsberechtigung hätten und denen wir allein im Dunkeln nicht begegnen möchten.

Apropos „allein“: Genau wie sich Samuel auf eigene Faust für seine Tochter einsetzt, ist auch das Spiel für grössere Gruppen eher weniger geeignet. Natürlich darf letztlich in beliebiger Besetzung gerätselt werden und acht Augen sehen mehr als zwei, aber eigentlich ist man es der bedrückenden Story schuldig, sich alleine oder allenfalls zu zweit an das Ritual zu wagen. Schwarze Vorhänge und Kerzen sind optional – das wäre vielleicht etwas zuviel des Guten… aber wenn ihr unbedingt wollt…
Ach, ein Detail sollte ich vielleicht noch erwähnen, für den Fall, dass ihr euch doch für eine Partie um Mitternacht auf einem abgelegenen Friedhof entscheiden solltet: Ein Stromanschluss wäre von Vorteil. Ja – was habt ihr denn gedacht, wie ihr prüft, ob die Rätsel korrekt gelöst wurden? Elektrisch, nämlich! Auch wenn der Verlag von einer „App“ spricht – eigentlich handelt es sich um eine Webseite, die zwar euren Fortschritt im Gedächtnis behält, sonst aber ledigilch dazu bereit steht, eure Lösungsversuche der einzelnen Rätsel (in Reihenfolge nach eurem Gusto) entgegen zu nehmen, und euch im Fall einer korrekten Lösung zum nächsten Textabschnitt zu lotsen. Oder, falls gar nichts mehr geht, euch den einen oder anderen Tipp mit zunehmendem Informationsgehalt zuzuflüstern. Das funktioniert prima und lenkt nicht von der Hauptsache ab: Dem Brett und den Karten.

Die allermeisten Rätsel sind fair! Da ist kaum etwas als reines Suchbild irgendwo in einer Ecke praktisch unsichtbar klitzeklein versteckt, und wenn’s doch einmal darum geht, ein Detail zu finden, werden wir über andere Hinweise darauf aufmerksam gemacht, dass da wohl irgendwo etwas sein muss. Abgesehen von extrem wenigen Ausnahmefällen von Point-and-Clickismus („Nein, du kannst den Nagel nicht mit dem flachen Stein einschlagen, du benötigst dazu die stumpfe Seite eines Beils“), sind die Rätsel durchwegs lögisch. Gleichzeitig schwanken sie stark bezüglich ihrer Schwierigkeit, und in einem Fall wird eine relevante Information etwas zu sehr durch ein ungünstig platziertes Kartensymbol verdeckt. Äusserst positiv zu verbuchen ist hingegen: Da wurde nichts rezykliert, die Kreativität hinter den Rätseldesigns ist deutlich spürbar (an der einen oder anderen Stelle durchbrechen sie gewissermassen auch mal die vierte Wand), die Knobeleien unterscheiden sich grundlegend, so dass man bei entsprechenden Geistesblitzen immer wieder angesichts der eigenen Genialität überrascht zusammenzuckt und sich anerkennend selbst auf die Schulter klopft.
Meine erste Partie endete… sagen wir… nicht mit einem vollumfänglichen Erfolg. Und ja, natürlich spielt man so was normalerweise einmal, dann dürft ihr die Schachtel weitergeben, damit sich jemand anders daran erfreuen kann.
ODER: Ihr nehmt das suboptimale Abschneiden nicht einfach hin und beginnt noch einmal vorne. Denn The Awakening beinhaltet diverse Verzweigungspunkte, anlässlich derer folgenreiche Entscheidungen zu treffen sind, welche die Story in eine andere Richtung, tatsächlich einem anderen Ende entgegen lenken. Hätte ich dem einäugigen Piraten doch trauen, die rote statt der blauen Pille schlucken, das Spielzeugauto statt des Malkastens mitnehmen sollen? (Nein, es kommen weder Piraten noch blaue/rote Pillen noch Spielzeugautos oder Malkästen vor. Ich sag‘ doch: Keine Spoiler!). Natürlich sind bei einem zweiten Durchgang viele Rätsel bereits gelöst worden, alles andere als ein optimales Ende hinterlässt allerdings aufgrund der Handlung ein derart unertäglich nagendes Gefühl, dass The Awakening zweifellos das Meiste richtig gemacht hat. Nein, die geschichtenerzählende Stärke des Titels ergibt sich nicht aus ihrer sprachlichen Brillianz oder einem besonders raffinierten Aufbau der Story. Stattdessen wirkt das Geschehen auf einer anderen Ebene: Durch emotionale Schläge in die Magengrube.
Ich bin auf weitere Titel der Escape-Tales-Reihe schon jetzt gespannt. Wenn Story und Rätseldesign das Niveau von The Awakening halten können, gehört sie, gerade für Solo- oder Zweierabenteuer, zweifellos zum Besten, was das Genre zu bieten hat.
Als Spoilerfree-Fetischist (scheinbar scheint das ja eine Art Fetisch sein zu müssen, so unpopulär es zu sein scheint, dass man nicht gespoilert werden will) muss ich sagen: genau so muss ein spoiler-freies Review sein. Und es funktioniert sogar prima.
Vielen Dank!
Allerdings kommt da die nächste Bünzli-Eigenheit von mir zum Vorschein: Ich kann mich irgendwie nicht mit ‚one-time-plays‘ wie die Legacy-Systeme oder eben sowas anfreunden bei Brettspielen. Ich möchte lieber Spiele die ich immer mal wieder auspacken und spielen kann. Irgendwie seltsam, denn bei PC-Spielen stört mich das gar nicht.
Was bist du denn für ein Bünzli! 😉
Aber danke erst mal für’s Lob!
Es zwingt dich ja auch niemand zu Wegwerf-/Weitergeb-Spielen. Ihre grundsätzliche Ablehnung bedeutet aber auch, dass du auf das verzichtest, was sie von wiederspielbaren Titeln unterscheidet – und das ist oft mehr als einfach nur ein paar gelöste Rätsel. Unsere Pandemie Legacy-Runden waren vielleicht das Beste, was wir am Spieltisch erleben durften. Können wir das noch mal? Nö. Bleibt die Erinnerung an tolle Spieleabende? Jop!
Wann kommst du noch mal Nemesis spielen?
Haha, sag ich ja. Bin halt ein Ossi, die sind doch so. ;-P
Ja, das ist ja gerade das Ding. Bei PC-Spielen gefällt mir das bei diesen ‚One-Timern‘ auch so gut. Einfach mal *BAAMM* – volle Kanne Emotionen, Spannung,… in die Fresse. Einige meiner absolut Top-Spiele sind solche Spiele. Ich verstehe auch nicht so ganz woher diese ‚Abneigung‘ dazu bei Brettspielen stammt. Knausrig?
Das gleiche gilt übrigens für wiederspielbare aber mit Kampagnen versehene Spiele: Die sind oft so richtig episch zu spielen, aber benötigen mMn eine Gruppe die regelmässig zusammen spielen kann. Was – für mich zumindest 😉 – auch nicht immer so einfach ist.
Aber ich bin mir sicher dass ich mich diesbezüglich noch ändern werde. Ich bin ja noch nicht so alt wie ihr. ;-P
Nochmal Nemesis spielen? Hab ich denn das schon mal? :O Aber ja, ich müsste echt mal wieder nach FR pilgern. Wann ist die nächste Runde? Allerdings ist das dieses Jahr eher unwahrscheinlich, wg. Weihnachtszeugs und so.
„Knausrig“? Jop! 😉
Das mit der stehenden Gruppe stimmt natürlich. Deswegen halte ich Werwolf Legacy auch für Blödsinn. Eine ständige Gruppe von mindestens 9 Personen? Viel Glück…
Das „nochmal“ bezog sich auf den Umstand, dass mir so war, als hättest Du bereits ein Datum genannt, an dem du dich uns aufdrängen wolltest. Ich kann mich aber täuschen 😉
Werwolf Legacy gibts auch? Krass. Das ist wirklich etwas ‚too much‘. Aber ansonsten ist es wohl wie mit einer P&P Gruppe: Wenn man mal ‚die üblichen Verdächtigen‘ zusammen hat, sollten solche Runden von 3-5 Spieler kein Problem sein.
Nemesis: Ne, da hatte ich nichts genannt. Hab nur meine Antizipation zum Review geäussert und dass es nach einem Spiel für mich klingt. Aber kein Datum genannt. Aber wie gesagt, bin sehr gerne für eine Partie zu haben. 🙂
„dann dürft ihr die Schachtel weitergeben, damit sich jemand anders daran erfreuen kann“
das hindert mich bisher daran, so ein Spiel zu kaufen. Dein Beitrag degegen, bewirkt dann wohl das Gegenteil. :;D Danke dir.