Die Erwartungen waren überraschenderweise tief, als ich Anfang Jahr meine Loyalität und mein Geld versprach. Die Integration von VR-Elementen liess mich irgendwie kalt, die comichaften Illustrationen überzeugten mich auch nicht so recht, und dass das Spiel dann auch noch pünktlich im Briefkasten lag, kann unmöglich Gutes verheissen. Und so erhielt das arme Paket kurz vor der Spiel ’18 leider auch nicht seinen gebührenden Empfang. Denn es ist genau mein Spiel...
Sherlock Holmes 2.0
Dieses arme Sherlock Holmes – Consulting Detective. Wann immer ein neues Detektivspiel erscheint, muss es seinen Kopf hinhalten und sich anhören, was die Moderne alles besser macht. Chronicles of Crime zum Beispiel versucht mit Hilfe einer App und VR-Umgebungen einen Angriff auf den Detektiventhron.
An dieser Stelle sei kurz erwähnt, dass ich Detective: A Modern Crime Board Game noch nicht gespielt habe, und somit keinen auf der Hand liegenden Vergleich der beiden neusten Detektivspiele vornehmen kann.
Wie erwartet besuchen wir auch in Chronicles of Crime von Lucky Duck Games interessante Orte, verhören Verdächtige, sprechen mit Zeugen und nehmen den Verdächtigsten fest. Aber diesmal ganz ohne Storybook, sondern mit zahlreichen Charakter- und Gegenstandskarten. Diese sollen während des Spiels in den richtigen Zusammenhang gesetzt werden, um an neue Informationen zu gelangen und schlussendlich den Fall zu lösen. Ein Beispiel – natürlich frei erfunden:

Der Polizeichef – Charakter 35 – ruft uns zum Revier. Eine junge Frau – Charakter 12 – sei in Notting Hill – Ort G – tot aufgefunden worden. Schön brav legen die Spieler alle gefundenen Karten aus und stellen fest: „Da sind ja überall QR-Codes drauf!?!?“ Genau, diese Codes, die seit Jahrzehnten kläglich versuchen, unser Konsumverhalten zu beeinflussen, spielen hier tatsächlich eine wichtige Rolle. Ich habe in vier Partien Chronicles of Crime mindestens 10-mal so viele Codes gescannt wie sonst in meinem ganzen Leben. Aber worauf warten wir noch, auf nach Notting Hill: mit der App die Ortschaft scannen und schon sind wir da. Der weinende Ehemann – Charakter 23 – sitzt auf der Treppe vor dem Haus, ein Polizist – Charakter 25 – winkt uns zu sich, und die App macht uns darauf aufmerksam, dass wir den Tatort in fancy pancy Virtual Reality erkunden können. Dabei finden wir eine zerbrochene Vase neben dem Todesopfer – blutverschmiert. Wir nehmen die passende Gegenstandskarte und möchten gerne den Ehemann dazu befragen. Dank der App kein Problem: Ehemann scannen, Vase scannen und schon plappert er los. „Jaja, Hochzeitsgeschenk, pfff… Mordwaffe, ja…“
Da ist ein Brett…
…also muss es doch ein Brettspiel sein! Ne, im Ernst. Ich muss schon zugeben, dass Chronicles of Crime sehr sehr wenig mit Brettspielen zu tun hat. Die Karten sind streng genommen schlichtweg ein unnötiger Umweg. Die App lässt uns eine Karte auslegen, die wir dann scannen können, um der App zu sagen, dass wir die Karte auch tatsächlich haben. Eigentlich weiss doch die App genau, welche Karten ausliegen und könnte diese ganz einfach irgendwo für uns auflisten. Ein reines Computerspiel quasi. Die App kümmert sich nämlich auch gleich selber um die Tageszeit, auftauchende Hinweise und neue potentielle Bösewichte. Kurz: Die Spieler machen rein gar nichts anderes, als zu überlegen und Karten in der richtigen Reihenfolge zu scannen. Wem das nicht zusagt, soll und kann seine Zeit hier besser nutzen.

Noch da? Great, you are in for a treat! Denn dass die Gegenstände und Charaktere vor einem ausliegen, hilft extrem beim Knobeln, kreiert Atmosphäre und sieht auch hübsch aus. Die Portraits der Personen sind sehr unterschiedlich und passen perfekt zu den Charakteren in der Geschichte; auch wenn einzelne natürlich in verschiedenen Fällen andere Rollen einnehmen. Alles in allem ist das Untersuchen und Verhören mit der App sehr intuitiv, funktioniert einwandfrei und stört auch kaum. „Ha! Jetzt können wir mit dem neuen Hinweis den alten Knacker konfrontieren und möglicherweise gar überlisten!“ Aber ist Chronicles of Crime nun ein Brettspiel oder nicht? Bö, mir doch egal… Es nutzt keine unnötigen oder schlecht integrierten Mechanismen wie beispielsweise diese elenden Würfel im dennoch grandiosen Spiel TIME Stories und erzählt trotzdem eine packende und immersive Geschichte. Was will man denn mehr?
Vielleicht noch ein Wort zur VR-Umgebung. Hie und da lassen sich verschiedene Orte – meist Tatorte oder das Zuhause von Verdächtigen – in der virtuellen Umgebung untersuchen, dank einer mitgelieferten VR-Brille. Ich hatte im Vorfeld grosse Angst, dass es sich – auch in Zusammenhang mit der eher lockeren Aufmachung des Spiels – vor allem um ein Suchspiel handelt. „Hey, lasst uns gemeinsam die Mordwaffe finden. Dann können wir zum nächsten Ort und finden da was Neues!“ Und so weiter und so fort… Und natürlich geht es bei diesen kurzen Mini-Untersuchungen in einem gewissen Grad auch ums reine Entweder-du-siehst-es-oder-nicht. Da aber pro Fall lediglich ein bis zwei Tatorte in der VR-Umgebung untersuchbar sind, fühlt sich das Ganze weder repetitiv noch forciert an. Zudem sind die Umgebungen sehr clever aufgebaut und schaffen es, auch die geübteren Detektive unter uns zu fordern. „Da steht ein Foto von einem Baseballteam. Der schräge Typ im Park war doch Baseballspieler, oder?“
Und die Story?
So, kommen wir zum Wichtigsten! All das oben erwähnte Zeugs wäre ohne halbwegs interessante Geschichte nutzlos. Und hier zeigt Chronicles of Crime, wie es geht. Ab der ersten Sekunde ist man im Spiel, schaut in die Gesichter der verschiedenen Charaktere, überlegt, was genau passiert ist und versucht die Charaktere und Gegenstände in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen; und dies, ohne je einen Text lesen zu müssen dürfen müssen, der länger ist als ein paar Zeilen. Dass sich die Geschichte während der Partie entwickeln kann, ist natürlich mit einer App technisch kein Problem, dennoch schier genial. Je länger die Spieler warten, desto mehr Opfer tauchen möglicherweise auf. Schaffen es die Detektive den Mörder zu finden noch bevor auch das letzte Mädchen tot ist? Zusätzlich zeigt eine kurze Kampagne (drei Fälle), zu was allem das Spiel auch fähig ist. Die Geschichte beginnt mit einem „normalen“ Mord, doch plötzlich tauchen über verschiedene Fälle immer wieder dieselben Personen auf, und den Spielern wird klar, dass sie hier auf etwas Grösseres gestossen sind. Brillant!

Und weil’s noch nicht genug Lob ist: Das Spiel trifft genau meine Schwierigkeitsstufe. Beziehungsweise lässt einem das Spiel hier sehr viel Spielraum. Wie in den meisten Detektivspielen stellen sich die Spieler am Schluss einer Reihe von Fragen. Will man tatsächlich jedes Detail des Falles lösen, sitzt man sehr schnell zwei Stunden grübelnd am Tisch. Will man jedoch in gut 60 Minuten abschliessen, den Mörder zwar meist fassen aber vielleicht nicht unbedingt auch noch die richtige Komplizin einbuchten – wie ich – ist auch dies möglich. „Ach kommt schon, Motive sind doch vollkommen überbewertet. Er war’s, und das zählt!“ Das Spiel schafft es, dass die Spieler dies nicht als Niederlage erleben, sondern als eines von vielen möglichen Enden. „Du hast den Mörder gefasst, aber sein Gehilfe ist noch draussen. Wer weiss, wie sicher London tatsächlich ist.“ Oder so irgendwie. Das finde ich sehr befriedigend und es ist ein willkommener Unterschied zu den meisten Detektivspielen, bei denen zumindest ich selten zufrieden gewinne und meist frustriert verliere; nach drei Stunden wohlgemerkt.
Greift nach den Sternen…
Ich träume schon jetzt von zahlreichen neuen Fällen und Erweiterungen, die neue Mechanismen einführen, die Spieler in neue Welten eintauchen lassen oder ganz einfach neue Geschichten erzählen. Im Moment sind auf der App neben dem Tutorial eine Kampagne über drei Fälle und vier einzelne Fälle verfügbar (alle auch auf Deutsch übrigens, da wird fast täglich geupdated. Chapeau!); drei weitere sind für die nächsten Monate angekündigt. Anfang 2019 sollen dann noch die Geschichten für die beiden Erweiterungen Noir und Welcome to Redview erscheinen.

In Noir erhalten die Spieler die Möglichkeit, Charaktere zu beschatten, zu bestechen oder einzuschüchtern. Zuerst die Aktionskarte scannen und dann die Zielperson.
Welcome to Redview nimmt die Spieler mit in eine amerikanische Kleinstadt in den 80er Jahren. Tiere scheinen auf unerklärliche Weise zu verschwinden und sechs Kinder fassen sich ein Herz und gehen dem Mysterium auf den Grund.
Ne, im Ernst jetzt, seit ich als ungefähr 13-jähriger Junge vor dem Flug nach London eine ganze Woche nicht schlafen konnte und dann entschieden habe, dass Vorfreude vollkommen überbewertet ist, freue ich mich eigentlich kaum mehr auf bevorstehende Dinge; aber das Ding hat mich voll gepackt! Soooooo… genug gelabert. Worauf wartet ihr? Holt euch das Spiel!
Das meinen andere QR-Code scannende Möchtegerndetektive:
Matthias: Chronicles of Crime gefällt mir sehr gut. Was noch besser ist: Es gefällt meiner Frau! Keine Regelfragen, kein Wettkampf, kein hirnzermarterndes Logikpuzzle. Ein unterhaltsamer Krimi, welcher genügend offen erzählt wird, so dass wir auch am Ende nicht 100% sicher sind, auf alle Fragen die richtigen Antworten zu haben und wir auf unsere Intuition hören müssen. Gewürzt wird das Ganze mit einer Prise VR-Spielereien. Nicht zu viel, gerade richtig. Ein wichtiger Punkt ist für mein Umfeld ausserdem der Fakt, dass die Sprache in der App umgestellt werden kann. Das Material ist so flexibel, dass nur die Kreativität der Autoren die Grenzen darstellen. Ich freue mich auf die kommenden Fälle.
Und, was haltet ihr von Chronicles of Crime? Lasst es uns in den Kommentaren wissen…
Hallo Etienne
Ich habe die Schachtel am Muwins-Samstag gesehen und da schon einiges gehört. Mit deiner Erläuterung macht es mich „gwundrig“ dieses Spiel zu spielen.
Liebe Grüsse
Corinne