Dass das berühmteste Foto von Nessie mit Hilfe einer Plastik-Seeschlange, eines Spielzeug-U-Boots und eines kreativen Fotografen zustande kam, ist seit Langem bekannt. Dennoch lassen sich weder Kryptozoologen noch Heerscharen von Reisenden davon abhalten, eine millionenschwere Touristenattraktion am Leben zu erhalten. Nein, liebe Leserinnen und Leser: Nessie gibt’s nicht und gab’s nie! Ganz im Gegensatz zu Pixies!
In Cryptid von Hal Duncan und Ruth Veevers schlüpfen wir in die zugegebenermassen wenig erstrebenswerte Rolle von Kryptozoologen auf der Jagd nach einem mysteriösen, nicht näher definierten Vieh. Im Gegensatz zu unseren realen Vorbildern wissen wir immerhin: Was auch immer wir zu finden erhoffen – es existiert nur im Spiel. Oder nicht einmal da, denn genau genommen suchen wir lediglich einen präzise definierten Ort, und das möglichst rasch. Wenn man Cryptid nämlich etwas vorwerfen möchte, dann den Umstand, dass sich das Thema kurz nach dem Öffnen der Schachtel auf Nimmerwiedersehen verabschiedet. Das Positive daran: Statt Fantasiemonster zu jagen, wenden wir in Cryptid spielerisch die wissenschaftliche Methode an, indem wir Hypothesen formulieren, diese testen und dann meist auch wieder verwerfen – bis irgendwann jemand „HEUREKA!“ ruft…

Vor der Erleuchtung wartet aber ein wenig Arbeit auf uns: Wir ziehen aus dem Kartenstapel (alternativ darf man auch online randomisieren) ein Basis- oder fortgeschrittenes Szenario und bauen das dort vorgegebene Suchgebiet, das sich aus Sechseckfeldern zusammensetzt. Anschliessend erhalten wir einen persönlichen Tipp, der uns (natürlich unvollständig) darüber informiert, wo sich Yeti aufhält. Beispielsweise könnte Yves dadurch erfahren haben, dass wir in einem Sumpf oder Waldgebiet fündig werden, während Matthias darauf hingewiesen wurde, dass der Typ (Yeti, nicht Matthias) die Nähe von verlassenen Hütten bevorzugt. Und weil ich selber weiss, dass Pumas und Bären nicht zu den Freunden unseres Fabelwesens gehören, ergibt sich daraus noch genau ein einziges Feld im ganzen Suchgebiet, das als Aufenthaltsort in Frage kommt. Weil das mit jedem Spielplanaufbau und den dazugehörigen Hinweisen in Abhängigkeit der Spielerzahl funktioniert, hat sich Osprey Publishing schon mal eine Runde Zwischenapplaus verdient.
… (bitte hier zwischenapplaudieren) …
Da wir nicht etwa kooperative Kryptozoologen verkörpern, sondern lediglich die eigenen Interessen im Kopf haben, erzählen wir uns nun nicht einfach gegenseitig, was wir wissen. Stattdessen machen wir uns daran, unsere Betrugs Berufskollegen nach und nach auszuquetschen, selber möglichst wenig hilfreiche Informationen preiszugeben und das Rätsel vor der Konkurrenz zu lösen. Sind wir am Zug, haben wir dazu zwei Möglichkeiten: Entweder wir führen ein ungezwungenes Fachgespräch unter Kollegen, oder wir machen ernst, holen unser Schmetterlingsnetz hervor und geben einen Tipp ab.

Ein Fachgespräch beginnt zwingend mit der Anrede „Allerliebster Yves (bitte Namen entsprechend anpassen)“, gefolgt von der Platzierung des Suchpöppels auf einem Feld, sowie der Frage: „Kann sich Yeti (ersetzbar durch „Choupacabra“, „Bigfoot“, „Nessie“ oder „der Werwolf“) deinen Informationen zufolge hier aufhalten?“ Widerspricht der Aufenthaltsort nicht der Yves bekannten Regel, platziert er knurrend, aber zustimmend eine seiner Scheiben auf dem Feld.
Kommt der Ort hingegen laut persönlicher Information nicht als Wohnort des gesuchten Wesens in Frage (beispielsweise, weil ich mit ihm über ein Bergfeld diskutiert habe), stellt er stattdessen ein Ablehnungsklötzchen dorthin. Wann immer jemand so gezwungen wird, eine negative Antwort zu geben, muss allerdings auch der Fragende ein Feld ablehnungsklötzchenlegenderweise markieren.

Da die potentiellen Ausgangsinformationen allen bekannt sind, wird man aufgrund der Hinweise bald erste mögliche Regeln für einzelne Konkurrenten ausschliessen können. Danach geht’s ans Hypothesen Testen, indem man zunehmend gezielter befragt – bis man irgendwann das Gefühl hat, man sei zumindest nahe dran…
Denn da Zweitplatzierte prinzipiell leer ausgehen, wird man im Zweifelsfall vielleicht eher zu früh als zu spät versuchen, das Rätsel zu lösen, indem man den Schritt wagt, den Motor des Expeditions-Jeeps startet und einen Tipp abgibt. Dazu markiert man selber ein Feld mit einer Scheibe, gibt damit also zu erkennen, dass das Feld gemäss der eigenen Information als Zielfeld möglich ist, und befragt nun reihum die Konkurrenz. Antworten alle positiv, darf gratuliert werden: Die Kryptozoologie wurde gerade um eine Spezies ärmer, die (wissenschaftliche) Zoologie um eine reicher, der Weltruhm ist erlangt. Ist hingegen eine Antwort negativ, endet die Befragung sofort und man hat der Konkurrenz möglicherweise eine Tonne an Informationen zum tatsächlichen Aufenthaltsort geliefert.

Cryptid verfügt eigentlich über jene Zutaten, die es potentiell zu einem Endlos-Grüblerspiel prädestinieren würden: Es müssen zunehmend komplexere Informationen verarbeitet werden und verschenkte Züge bedeuten, dass wohl jemand anderes zuerst am Ziel ist. Allerdings: Die Hypothese der langen Wartezeiten hat sich bisher nicht bestätigt – oder zumindest werden sie subjektiv nicht als lange wahrgenommen, denn tatsächlich erfährt man ja auch während fremden Zügen wichtige Informationen und ist ständig damit beschäftigt, die eigenen Hypothesen zu schärfen und zukünftige, zielgerichtete Befragungen zu planen. Da kommt mir die zusätzliche Minute Bedenkzeit, während der sonst jemand am Zug ist (und gerade wieder sämtliche vermeintlich sicheren Informationen über den Haufen geworfen hat), gerade recht, damit dann nicht alle auf mich warten müssen… Und weil das der ganzen Runde so geht (vorausgesetzt, es sind auch wirklich alle engagiert im Spiel), klagt niemand.
Essentiell ist, dass die Beteiligten, trotz Konkurrenz, wahrheitsgetreu Auskunft geben. Und während man niemandem bösen Willen unterstellen muss, bleiben unbeabsichtigte Falschaussagen ein potentielles Problem. Die Spielregel sieht in solchen Fällen eine leichte Bestrafung der Übeltäter vor, sobald diese den Fehler bemerken und korrigieren, doch bis dahin können im schlechtesten Fall einige Züge ins Land ziehen; die währenddessen formulierten Hypothesen der Konkurrenz sind voraussichtlich ein Fall für die runde Ablage. Sorgfältiges Spielen ist aus Fairnessgründen also gefragt.
Richtig Pfeffer kommt in die Sache übrigens mit den fortgeschrittenen Szenarien. In diesem Spielmodus wird die Anzahl möglicher Startinformationen verdoppelt, indem alle positiven Hinweise nun auch negativ möglich sind („… befindet sich NICHT auf Sumpf oder Wald…“).
… Und wenn ich von „Pfeffer“ spreche, dann meine ich damit nicht den „Ich-schiesse-mir-den-Weg-frei-und-handle-mit-Waffen-und-Drogen“-Pfeffer aus anderen Spielen, die wir auch lieben, sondern die zusätzlichen Anforderungen, die Cryptid an unsere Gehirnwindungen stellt. Das Spiel bietet eine ruhige, grüblerische, letztlich abstrakte (man beachte auch die Optik), Hypothesen-bilden-und-fluchend-verwerfende Erfahrung. In Sachen Kombinatorik und Atmosphäre erreicht es nicht den Klassenprimus unter den Deduktionsspielen – allerdings auch nicht bezüglich Spieldauer und Regelkomplexität. Durch die Zugänglichkeit bei gegebenem Anspruchsniveau weiss es bei seiner Knobler-Zielgruppe aufzutrumpfen, die kleinen, gemeinen Spielereien um Verwirrtaktiken bei der Preisgabe eigener Informationen bieten zusätzlich das gewisse Etwas, so dass sich Cryptid auf Anhieb einen Platz in der MUWINS’schen Spielebibliothek ergattert hat.
Lebt der Muwin auf einem Berg?
Wieder knapp daneben. Aber knapp.