Das Angebot an Spielen mit verdeckten Identitäten wird zunehmend unübersichtlicher. Obwohl die Grundidee „Gut gegen nicht auf den ersten Blick allzu offensichtlich Böse“ erhalten bleibt, wartet jeder Titel mit einem (hoffentlich) eigenen Kniff auf, der auf Liebhaber des Genres eine ähnliche Anziehungskraft ausübt wie der Gral auf Arthurs Ritter. Manche dieser Kniffe sind grandios, andere scheitern kläglich – und es ist wohl kein Zufall, dass Letztere oft in Titeln auftauchen, die allzu viel in das eigentlich so simple Paradigma packen wollen. Nun ist Hulk ja nicht gerade für seine Bescheidenheit und Unauffälligkeit bekannt…
Die ewigen Favoriten des Genres sind bekannt: Der Widerstand war und bleibt grandios, die One-Night-Ultimate-Serie bietet ihr ganz eigenes Spielgefühl, Tempel des Schreckens (aka Time Bomb, aka Don’t Mess with Cthulhu) ist so simpel wie spannend, Room 25 liefert uns um den Verrätermechanismus herum eine aufregende und zeitlich perfekt zugeschnittene Rahmenhandlung. Einen ganz speziellen Platz an den muwins’schen Spieltischen nimmt neben diesen Titeln aber nach wie vor Secret Hitler ein. Kann Hail Hydra den Favoriten ins Wanken bringen oder gar vom Thron stossen? Die Namensgebung lässt zumindest entsprechendes Potential vermuten…

Und tatsächlich sollte es den vereinten S.H.I.E.L.D. Marvel-Superhelden doch zumindest thematisch recht leicht fallen, den üblen Diktator in die Schranken zu weisen. Als Hulk, Spiderman, Daredevil oder Captain America (darüber hinaus sind noch viele weitere, teilweise deutlich unbekanntere Helden am Start), stürzen wir uns in den Kampf gegen zunehmend stärkere HYDRA-Mitarbeiter, deren Ziel es ist, New York dem Erdboden gleich zu machen. Erschwert wird die Sache dadurch, dass einige Helden geheimer- und fieserweise HYDRA angehören, und natürlich erkennen die sich anlässlich einer vor der ersten Runde stattfindenden Nachtphase (Captain America wird doch wohl nicht…). Bricht der neue Tag an, stürzen wir uns auch schon ins Getümmel!

Gekämpft wird dabei mittels einer von Battlestar Galactica über Homeland adaptierten Kartenmechanik: Aus unserem Vorrat spielen wir reihum verdeckt eine bis drei Karten, die positive oder negative Werte aufweisen. Ist die Summe aller gespielten Karten positiv, ziehen wir vom aktuellen Gegner die entsprechende Anzahl Lebenspunkte ab, ansonsten kommt er (vorerst) ungeschoren davon. Falls der Bösewicht einen S.H.I.E.L.D.-Angriff übersteht, beschädigt er anschliessend die Stadt, was auf deren Lebenspunkteleiste mittels eines formschönen Avengers-Towers dargestellt wird.

Apropos formschön: Überhaupt kommt das Gesamtpaket sehr edel gestaltet daher. Über die etwas gar dünn geratenen Helden- und Schurken-Charakterkarten und das Spiel“blatt“ sehen wir grosszügig hinweg, denn ihr grafisches Design ist eigen, weiss aber sehr zu überzeugen. Ansonsten hat man sich, von der Schachtel über das Inlay bis zum Startspielermarker, viel Mühe gegeben, ganz superheldentypisch auch materialmässig aus der Masse hervorzustechen.

Zurück zu unserer Mission: Als solche wird nämlich die Auseinandersetzung mit einem Übeltäter bezeichnet, wobei eine „Mission“ aus mehreren „Offensiven“ (Runden) bestehen kann – bis der Typ geplättet ist, eben. Oder die Stadt futsch. Nach jeder Offensive wandert der Startspielermarker um eine Position weiter, und das ist der Moment, bei dem der neue Inhaber seine allenfalls restlichen Handkarten abwirft und sechs neue zieht. Alle anderen am Tisch erhalten für die nächste Offensive lediglich eine neue Karte – das Kartenmanagement spielt also eine tragende Rolle, denn ihr erinnert euch: Mindestens eine Karte MUSS gespielt werden, wenn man an einer Mission teilnimmt!

Hat man einen Schurken endlich gebodigt, findet in der darauf folgenden Knockout-Phase eine Prise Widerstand statt. Sie beinhaltet die beliebte Tradition, dass Leute mit dem Finger aufeinander zeigen. Auf jene Leute nämlich, die sie bei der nächsten Mission lieber nicht mehr mit dabei haben möchten. Die so Ausgeschlossenen dürfen dem nächsten Bösewicht also nicht die Rübe polieren, sind aber dennoch nicht einfach aus dem Spiel, sondern unterstützen durch das Verteilen von 1-2 Handkarten ihr Team aus dem Hintergrund (oder führen das gegnerische in die Irre). Und schliesslich hat sogar ausgeknocktes HYDRA-Personal noch die Möglichkeit, sich vom Stuhl zu erheben und laut (!) „HAIL HYDRA!“ zu rufen, wodurch man sich zwar definitiv als Missetäter outet, der Stadt aber auch Schäden zufügt – was spielentscheidend sein kann.
So weit so unaufregend. Wir erkennen als Zwischenfazit zwar viele bekannte, funktionierende Spielelemente, aber darüber hinaus bis auf die Namen der Helden und Bösewichte wenig Herausragendes. Glücklicherweise sind aber in beiden Fällen mit den Namen auch Spezialeigenschaften verbunden, und die sind der obligate Kniff in Hail Hydra. Jeder HYDRAner verfügt über einen (recht innovativen) Effekt, der in Kraft bleibt, so lange er in New York wütet, während die Heldenfähigkeiten genau einmal im Spiel eingesetzt werden dürfen – dann also grösstmögliche Effekte erzielen sollten. Wann das genau der Fall sein könnte, ist – als gutgemeinter Vorschlag – auf der Rückseite jeder Charakterkarte vermerkt, und zwar für beide Seiten.

Schön thematisch „ernetzt“ sich beispielsweise Spidey je zwei Karten von seinen Nachbarn, wirft zwei davon ab und spielt die anderen als eigenen Angriff. Captain America erhält in einer Knockout-Phase zwei Stimmen, Daredevil schaut sich eine ausgespielte Angriffskarte eines Kollegen an (währen alle anderen die Augen geschlossen halten – von wegen Daredevil und so), Hulk langt einfach mal zünftig zu und bewirkt vier Schadenspunkte beim aktuellen Gegner, zerdeppert dabei aber auch im Vorbeigehen einen mittelgrossen Stadtteil.
Oft geht es beim Einsatz der Charakterfähigkeit als treuer Avenger aber darum, ein Maximum an Informationen zu erhalten, denn die sind für das anständige Team geradezu überlebenswichtig. Besonders in den späteren Missionen gegen stärkere Gegner kann sich ein aktiver HYDRA-Agent im Team verheerend auswirken. In so einem Fall ist man ohne loyalen Spiderman oder Black Widow schon fast aufgeschmissen (und New York erst), es sei denn, das Kartenglück ist einem sehr, sehr hold.

Im Vergleich zu unserem bisherigen Primus legt Hail Hydra ein leicht höheres Gewicht auf spielmechanische Methoden, um an Informationen zu gelangen. Da die Spezialfähigkeiten jedoch nur einmalig eingesetzt werden dürfen, besteht dennoch keine Gefahr, dass eine Partie im Regel- und Timingchaos endet. Zum Einsatz der eigenen Superkräfte sollte der richtige Moment abgewartet oder eben (völlig unabsichtlich natürlich) verpasst werden. Allerdings: Wer wem welche Aussagen zur wahrscheinlichen Ideologie der lieben Mitkämpfenden glaubt, begründet sich auch hier wieder durch die Überzeugungskraft unserer Helden. Trotz (etwas) vermehrter, handfester Informationen bleibt die Lösung des Rätsels also letztendlich Verhandlungs- und Vertrauenssache – und das ist gut so.
Es war ein Kopf-an-Kopf-Rennen! Dass Hail Hydra den Machtwechsel gegen Secret Hitler an unseren Tischen am Ende dennoch nicht ganz hinkriegt, liegt einerseits an der zulässigen Spielerzahl (fünf bis acht Superhelden sind es, während wir bei Secret Hitler meist in Vollbesetzung zu zehnt antreten). Darüber hinaus aber auch an Hail Hydras leicht reduzierter Zugänglichkeit. Keines der beiden Spiele ist in irgend einer Form zu komplex, aber während bei einer Partie Secret Hitler auch mit Neulingen am Tisch nach drei Minuten die ersten Wahlen stattfinden, sind bei Hail Hydra nicht nur aufgrund der Charakterfähigkeiten, sondern auch weiterer, kleiner Regeldetails ein wenig ausführlichere Erklärungen nötig, bis die Avengers in Gang kommen. Trotz dieser haarscharfen Niederlage: Man fühlt sich als Brettspielgruppe einfach sicher, wenn man neben verbrecherischen Diktatoren, verwunschenen Tempeln, mörderischen Labyrinthen und dystopischen Zukunftsszenarien doch auch noch einen handfesten Hulk in den eigenen Reihen weiss!
Andere Nachwuchshelden meinen zu Hail Hydra:
Yves: Dreimal gespielt, dreimal gewonnen. Das spricht für ein Spiel! Hail Hydra hat gegenüber anderen Vertretern des Genres einen riesen Vorteil: Wir sterben nicht, man nimmt uns einfach nicht mit auf Schurkenjagd! Das finde ich super! Toll ist auch das Marvel Setting. Ob Hail Hydra schlussendlich besser ankommt als Secret Hitler (oder: Chemnitz Reloaded), muss jeder selber entscheiden. Meiner Meinung nach hat es den Spitzenplatz erobert. Zumindest vorläufig…
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