Eigentlich stehen wir Erweiterungen ja höchst skeptisch gegenüber. In genau 89.78% der Fälle hängen sie einem prima funktionierenden Spiel zusätzlichen Ballast an, den niemand wirklich braucht und von dem man sich möglichst fernhalten sollte. Wir lieben beispielsweise Carson City und haben uns im Unterstützungswahn die (zugegebenermassen sehr schöne und auch sehr volle) grosse Box geholt – das Erweiterungsmaterial hat (bis auf einige Rollenkarten) immer noch nie Tageslicht erblickt. Dann gibt es aber andererseits auch die übrigen 10.22%, bei denen man trotz aller Bedenken genauer hinschauen sollte. Sogar, wenn der Titel der Box eher Basismathe statt Nervenkitzel verspricht.
Es geht um Wir sind das Volk! 2+2 von Richard Sivél und Peer Sylvester (Histogame) – und ja, der Name lässt beim besten Willen keinerlei Grossmachtfantasien aufkommen, führt stattdessen sogar geradewegs in die Irre (siehe unten). Und doch will uns die kleine Box Weltbewegendes bieten: Das bisherige Duell zwischen BRD und DDR wird um zwei nicht ganz unbedeutende Fraktionen „erweitert“. Dabei handelt es sich dennoch weniger um eine klassische Erweiterung, die hier und dort neuen Unfug an Bestehendes anpappt, als um eine völlig neue Betrachtung des historischen Wettstreits, indem sie das Sichtfeld gegenüber dem Basisspiel sowohl nach Osten wie auch nach Westen ausdehnt. Die neuen Fraktionen sind nämlich keine Geringeren als die USA und die UdSSR.

Die im Basisspiel dem Osten und Westen zugeordneten Farben Gelb und Rot bleiben erhalten und gelten hier neu für beide Vertreter der jeweiligen Ideologie. Dennoch ist 2+2 (obwohl der Name dies suggeriert) kein Teamspiel – ganz im Gegenteil! Stattdessen nähert sich die neue Variante konzeptuell der unter den MUWINS höchst beliebten COIN-Serie an: Beide Vertreter jeder Seite sind im Geiste zwar verbunden und verfolgen gemeinsame Interessen, am Ende gewinnt aber trotzdem nur einer!
Die bisherigen Siegbedingungen gelten weiterhin: Nach wie vor gewinnt Rot, falls die DDR nach Ablauf der vier Dekaden noch einigermassen steht, ansonsten Gelb. Auch die bekannten Möglichkeiten zum vorzeitigen Spielende bestehen für beide Seiten. Allerdings bedeutet ein „roter“ oder „gelber“ Sieg nun eben nicht mehr, dass die BRD oder DDR triumphiert. Stattdessen ist beim Erreichen einer Siegbedingung ausschlaggebend, ob sich die Supermacht der siegreichen Seite gegen jene der unterlegenen durchsetzen konnte. Ist dies der Fall, gewinnt der überlegene Goliath/Sauron, ansonsten der weniger kleine David/Frodo. Oder noch anderster ausgedrückt: Die BRD gewinnt, wenn sie ihr Spielziel erfüllt, und die „verbündete“ USA nicht stärker ist als die UdSSR. Die UdSSR gewinnt, wenn die DDR ihr Ziel erfüllt und die UdSSR selber die USA schlägt. Den Rest schafft ihr selber.
Für die beiden „Grossen“ ergibt sich so das Dilemma, dass man „seinen“ „Kleinstaat“ nicht einfach herumwursteln lassen kann. Ohne grosszügige Investitionen sieht der gegen seinen direkten Gegner nämlich uralt aus – insbesondere, wenn sich dessen zugehörige Grossmacht spendabler zeigen sollte. Andererseits bringt es auch nichts, die eigenen Grossmachtinteressen zu vernachlässigen und dadurch lediglich den Sekundantenposten für seinen Kleinstaat zu übernehmen. Heikel, heikel…
Um die eigene Interessenlage festzuhalten, steht den beiden Supermächten ein neues, ihrer Grösse kaum angemessenes, dennoch funktionales Brettchen mit Statusleisten zur Verfügung. Diese zeigen die aktuellen Nullsummen-Vergleiche für das Wettrüsten, die Eroberung des Weltalls sowie die weltpolitische Dominanz, wobei Wettrüsten und Raumfahrt zum vorzeitigen Spielende führen können, wenn eine Grossmacht ihren Konkurrenten dort allzu sehr abhängt.
Abgehandelt werden diese Leisten am Ende einer Dekade vor denjenigen des Basisspiels (nach einigem Insistieren dort nachzulesen). Und weil auch eine Grossmacht nichts geschenkt erhält, verfügen beide zusätzlich über eine Budgetanzeige. Ausserdem flattert auf dem kleinen Tableau ein Schwarm Friedenstauben, der je nach ausgelösten Ereignissen kleiner oder auch wieder grösser werden kann. Und dann wäre da noch der eine ominöse, rote Knopf…

Denn ja, 2+2 kann auch durch Drücken desselben enden – in diesem Fall „gewinnt“ (zumindest das Spiel), wer sich zuvor am stärksten für den Frieden (oder zumindest gegen das Knopfdrücken) einsetzte, was durch das Sammeln der Karten mit Friedenssymbolen registriert wird. Immerhin tritt der Supergau hier nicht ganz so häufig ein, wie es durch meine pure Schusseligkeit beim themenverwandten Twilight Struggle rummst.
An Aktionen stehen den Grossmächten die aus dem Basisspiel bekannten Optionen zur Verfügung, dazu lediglich zwei weitere: Der Einsatz einer ganzen Karte zum Wettrüsten oder die Verwendung eines Kartenwerts, um die eigene Portokasse aufzumöbeln. Andererseits beinhaltet das Spiel zusätzlich zu neuen gelben und roten Ereignissen eine Reihe neuer Kartentypen in den Farben Blau, Grün und Schwarz.
Blaue Ereignisse betreffen die Raumfahrt. Sie sind symmetrisch aufgebaut – wer das Ereignis auslöst, ignoriert die Symbole der anderen Farbe. Entweder die Amis spazieren zuerst über den Mond, oder eben die Sowjets.

Grüne Ereignisse beziehen sich auf diplomatische Vorstösse und Abkommen, sind eher entspannend ausgerichtet und führen dazu, dass verlorene Friedenstauben wiederbelebt werden.

Und dann lümmeln da noch die schwarzen Karten im Gelände herum. Niemand will sie nutzen, niemand mag sie ausführen…

Damit sind wir schon beim nächsten Dilemma. Anders als das Basisspiel besteht eine Dekade hier nicht aus zwei Halbdekaden, sondern aus drei Drittelsdekaden (wenn auch die „Drittel“ nicht ganz gleichmässig verteilt sind). Liegt lediglich noch eine Karte (mit Ausnahme der roten Spezialkarte) offen, wird ihr Ereignis automatisch ausgelöst, bevor eine neue Auslage erstellt wird. Oft handelt es sich dabei um eine schwarze Krisenkarte. Nehmen wir den Koreakrieg: Das Ereignis bewirkt, dass zwei Friedenstauben das Weite suchen, es belastet die Kassen beider Grossmächte mit einem fixen Geldbetrag und es erhöht die Unruhe in der BRD und der DDR. Darüber hinaus weisen die beiden Blitze darauf hin, dass für jede Grossmacht eine Konfliktkarte gezogen werden muss, die sich auf verschiedene Weise unangenehm auf deren Statusleisten auswirkt, beispielsweise in Form massiver Prestige-Einbussen, oder es fliegt uns kurzerhand ein nukleares Testgelände um die Ohren und wirft uns auf der Wettrüsten-Leiste zurück.

Natürlich könnten beide Grossmächte rechtzeitig einen Rückzieher machen und es gar nicht so weit kommen lassen. Der gute Wille würde allerdings mit lediglich einem Aktionspunkt abgegolten und sich ausserdem zufällig negativ (ebenfalls in Form einer bösen Konfliktkarte) auswirken. Immerhin erhalten wir für den guten Willen ein Friedenssymbol. Jaja, ihr habt schon recht, das ist eher mager, also lassen wir’s halt doch drauf ankommen und nehmen das Geballere in Kauf.

Die neuen Ereignisse und Symbole folgen der Logik des Basisspiels – wer dieses bereits kennt, hat 2+2 regeltechnisch rasch intus. Spielerisch ergeben sich hingegen zum Basisspiel massive Unterschiede: Einige Herausforderungen für die beiden Grossmächte wurden oben bereits dargestellt, aber auch „kartentechnisch“ machen sich Differenzen deutlich bemerkbar. Während in Wir sind das Volk beide Parteien pro Dekade jeweils 16 der Basis-Ereigniskarten zumindest zu Gesicht bekommen (14 in der Auslage sowie zwei eigene Handkarten), sind es hier noch 12 (3+3+4 sowie 2 eigene Handkarten). Die im Basisspiel vergleichsweise geringen Variationen hinsichtlich der zu erwartenden, potentiell auslösbaren Ereignisse sind hier deutlich ausgeprägter. Dadurch wird 2+2 einerseits abwechslungsreicher – aber auch zufallsabhängiger. Dazu kommen höchstens bedingt abschätzbare, dabei durchaus thematische Auswirkungen durch Wettrüstungs- beziehungsweise Konfliktkarten.

Mir persönlich macht sowas nichts aus, ich geniesse ein entsprechendes Mass an Unvorhersehbarkeit, Unsicherheit, Unplanbarkeit in einem solchen Spiel sogar. Es soll aber durchaus Leute geben, die ab einem gewissen Glücksanteil hemmungslos herumpääggen. Zugegebenerweise dürfte 2+2 durch die allgemeine Zufalls- und Pseudopartnerabhängigkeit mehr in Richtung Storytelling-Genre tendieren, während es sich beim Basisspiel doch um ein hartes, strategisches Duell zwischen zwei Konkurrenten handelt.
Da dieser Beitrag keine Rezension, sondern der Kategorie Er(n)steinsatz zugeordnet ist, erlaube ich mir des Weiteren keinerlei Urteil über die Balance des Spiels. Viel dürfte dabei neben etwas Kartenglück vom Verhalten der beiden Grossmächte abhängen, und überhaupt scheint deren Politik die Entwicklung einer Partie massgeblich mitzugestalten. Diesen Zusammenhängen weiter auf die Schliche zu kommen, dürfte ein Ziel zukünftiger Partien sein – Partien, auf deren Verläufe und erzählte Geschichten ich mich jetzt schon sehr freue.

oha, sieht kompliziert aus
Nur ein wenig 😉
Um’s noch besser zu verstehen hilft auch unsere Beschreibung des Basisspiels.
Freue mich auf künftige Einsichten zu 2+2.
Bezüglich zukünftiger Einsichten – der Zweiteinsatz war spieltechnisch noch besser als der Erste. Nun wussten die Supermächte was gut für sie ist (erst mal auf sich selbst schauen und Deutschland gerade so über Wasser halten, bzw. das rote Feuer in der Kaderschmiede löschen). Deshalb gab’s diesmal auch weniger eine Materialschlacht in Deutschland, als viel mehr bei den (natürlich rein defensiven!) Waffensystemen und im All. Und obwohl die UdSSR durch ein Missverständnis der Regeln ein paar Sprengköpfe umsonst eingeschmuggelt hat, war’s bis zum Ende extrem knapp. Nicht nur, dass im Taubenschlag mitunter gefährliche Leere herrschte und gewisse Staatsoberhäupter wohl schon die Grösse ihrer Knöpfe verglichen hatten …
Im letzten Drittel der letzten Dekade musste die USA noch schnell mal die CIA (in Form einer Handkarte) in die Kaderschmiede zum Aufräumen schicken, um den Wildwuchs der Sozialisten einzudämmen (die von der „wir brauchen keinen Lebensstandard, wir sind Sozialisten“-Fraktion), sonst hätte der Sozialismus den Westen überrollt. Und dann ist die UdSSR im Dekadenende vor Schluss noch irgendwie ihre Staatsschulden losgeworden und mit der USA gleichgezogen.
Fazit – DDR kollabiert, UdSSR und USA gleich stark, BRD gewinnt. Jegliche Ähnlichkeit mit tatsächlichen historischen Tatsachen, Ereignissen oder Personen ist natürlich rein zufällig. Nur eine Mauer wurde nie gebaut.
Auf ein Drittes? Jederzeit, gerne.