Im Rahmen der Hexenprozesse von Salem von 1692 bis 1693 wurden über 150 Menschen der Hexerei und des Bundes mit dem Teufel angeklagt und gefoltert. Zwanzig von ihnen wurden erhängt, ein weiterer zu Tode gequetscht. Ausserdem kamen fünf Personen während ihrer Haft um. Salem darf wahrlich als „Dark City“ bezeichnet werden.
Dark Cities nennt sich auch die Serie, mit der uns Façade Games in höchst attraktiver Buchform durch Raum und Zeit an Orte führen will, denen eine dunkle Vergangenheit gemeinsam ist. Tortuga war mit seiner piratösen Geschichte der erste davon, und das entsprechende Spiel rundum gelungen! Natürlich war die reale Piraterie alles andere als eine lustige Angelegenheit, aber mit den zunächst versteckten Loyalitäten, dem gegenseitigen Abjagen der Beutestücke und viel weiterem thematischem Augenzwinkern traf Tortuga 1667 voll ins Schwarze.
Die Geschichte der Hexenprozesse von Salem (wie im Übrigen aller Hexenprozesse irgendwo) ist eine Geschichte religiöser Verblendung und wozu diese in Verbindung mit Missgunst und Intrigen führen kann. Anstatt diese Thematik aufzugreifen, werden aber in Salem 1692 Täter- und Opferrollen geradezu umgestülpt und Hexen kurzerhand als real und böse erklärt. Die Dorfbewohner gewinnen, wenn sie die Urheber des Bösen ausfindig machen und… nun ja…
Dass sich das so ähnlich anhört, wie wenn man es mit Werwölfen (oder anderen Unholden, die man bedenkenlos abservieren darf) zu tun hat, trifft zwar zu. Die komplette Umkehrung der tragischen, realen Gegebenheiten (wenn man seinem Spiel schon den historisch belasteten Namen verleiht) lässt dennoch beim Rezensenten (der wohlgemerkt mit Secret Hitler null Probleme hat, und zwar auch deshalb, weil dort die Fraktionen treffend ihre Rollen spielen) ein ungutes Gefühl aufkeimen. Das Regelheft ist nur bedingt geeignet, Abhilfe zu schaffen, denn erst bei der historischen Beschreibung der Personen scheint durch, dass hier keine satanischen, sondern äusserst irdische Mächte ihre Finger im Spiel hatten.
Wie dem auch sei: Gehen wir davon aus, dass sich die Spielergemeinde der Tatsache bewusst ist, dass Hexen auch 1692 nicht existierten, dass sie also die spielerischen wie realen Geschehnisse einzuordnen vermag. Kann Salem 1692 trotz thematischer Unstimmigkeiten und letztlich grobfahrlässigen Geschichts- und Ethikverständnisses als Spiel überzeugen?
Die Nähe zu ähnlichen „Geheime-Identität“-Spielen lässt sich nicht wegexorzieren: Unter die Dorfbewohner haben sich ein oder zwei Hexen gemischt, die nichts Gutes im Schilde führen und in regelmässigen Abständen die Offensive ergreifen. Ja, ihr lest richtig, egal ob winziger Weiler (4 Bewohner) oder stattliche Vorstadt (12 Bewohner): In jedem Fall haben wir, zumindest zu Beginn, lediglich mit ein oder zwei Bösewichten zu rechnen. Dass dies dennoch funktioniert, hängt mit dem weiteren Verlauf des Spiels zusammen.
Unsere Identität besteht aus zwei Aspekten: Wir erhalten eine Personenkarte, die uns zu speziellen Eigenschaften verhilft, sowie eine Fraktionszugehörigkeit. Letztere ergibt sich aus einer Anzahl Fraktionskarten, die wir verdeckt vor uns auslegen. Der Beginn erinnert somit optisch an Don’t mess with Cthulhu alias Time Bomb alias Tempel des Schreckens. Anders als dort kontrollieren wir hier allerdings, was wir wohin legen, wobei die meisten dieser Karten lediglich den Schriftzug „Not a Witch“ zeigen. Hat sich aber mindestens eine „Witch“-Karte darunter geschlichen, dann sind wir passenderweise eine Hexe. Und bleiben es bis zum Spielende, denn sogar wenn uns diese Karte in Zukunft abhanden kommen sollte, bleiben wir unserer Fraktion treu. Das kann dazu führen, dass im Verlauf des Spiels immer mehr Dorfbewohner zu Hexen werden, und tatsächlich besteht die Siegbedingung der Hexenfraktion darin, alle Dorfbewohner auf ihre Seite zu ziehen (und sich der übrigen zu entledigen) .

Ziel der zumindest im Spiel unbescholtenen Dorfbewohner ist es hingegen, die Hexenkarten (!) zu finden – dabei ist unerheblich, ob sich noch weitere Hexen im Spiel befinden (die nun keine solche Karte mehr vor sich haben). Wurden alle (1-2) Hexenkarten aufgedeckt, gewinnt das Dorf. Bei diesem Unterfangen kann unter Umständen auch der Constable recht hilfreich sein, also die dritte Kartensorte, die sogar nur in einfacher Ausführung vorkommt. „Unter Umständen“ deshalb, weil auch eine Hexe durchaus Constable werden kann, und die agiert dann eher zurückhaltend hinsichtlich ihrer Hilfeleistungen.
Nach der Zuordnung der Identitäten und Rollen folgt die übliche erste Phase, in der die Hexen sich gegenseitig erkennen und jemandem im Dorf (das kann aus taktischen Gründen auch eine Hexe sein) die schwarze Katze zuschanzen. Die ist zwar vorerst noch ohne Auswirkungen, aber wartet ab…
Ist man am Zug, hat man die Auswahl zwischen dem Ziehen zweier Aktionskarten oder dem Ausspielen beliebig vieler davon. Karten dürfen ausschliesslich vor andere Personen gespielt werden, nie vor sich selber. Und da das Spiel mit negativen wie positiven Aktionen aufwarten kann, haben die Hexen durch ihre gegenseitige Identitäts-Kenntnis einen zünftigen Vorteil. Allerdings: Wer allzu früh oder zu spät, zu enthusiastisch oder zu verhalten, zu zögerlich oder zu überzeugt jemanden beschenkt, macht sich natürlich ausserordentlich verdächtig.
Bei der Mehrzahl der Aktionskarten handelt es sich um Anklagekarten, die ein bis sieben krude Kreuze zeigen. Sie lassen sich gleichmässig als übles Gewäsch oder konzentriert als explizite Anklage auf die übrige Dorfbevölkerung verteilen. Wer das siebte Kreuz vor jemanden hinlegt, zwingt diese Person, eine ihrer ausliegenden Fraktionskarten aufzudecken (und wählt dabei sogar, welche). Zeigt die Karte „Witch“: Hosianna! Haben wir den „Constable“ aufgedeckt, wurde gerade eine hilfreiche Funktion für das Dorf eliminiert (allerdings nur die Rolle, nicht ihr Träger). Handelt es sich (wie meistens) um eine „Not a Witch“-Karte, greift lediglich die Paranoia noch ein wenig weiter um sich.

Natürlich ist es verlockend, zunächst einmal haufenweise Anklage- und andere Karten zu sammeln, um dann – PÄNG! – jemandem sieben auf einen Streich vor den Latz zu knallen. Allerdings ist solches Horten mit Gefahren verbunden, beispielsweise dem berüchtigten Kartenklau, oder der eigene Kartenvorrat wird kurzerhand abgefackelt. Immer mal wieder hier und dort ein paar Gerüchte zu streuen, ist weniger gefährlich, führt aber auch nicht immer rechtzeitig zum Ziel. Denn die schwarzen Karten nahen unaufhaltsam…

Die erste davon befindet sich irgendwo im Nachziehstapel, nennt sich „Conspiracy“ und kann jederzeit einschlagen. Wird sie gezogen, muss sie sofort ausgeführt werden, was bedeutet, dass zuerst die schwarze Katze ihren aktuellen Besitzer ein Leben kostet. Anschliessend wählen alle von ihrem linken Nachbarn eine noch verdeckte Fraktionskarte und legen sie mit den übrigen Karten vor sich aus. Erhält man dabei eine „Witch“-Karte, ist die Hexenfraktion gerade um ein Mitglied angewachsen.

Die letzte Karte des fortlaufend dünner werdenden Nachziehstapels ist die Nachtkarte – der eigentliche Timer im Spiel. Sie löst – passenderweise – eine Nachtphase aus, die man in ähnlicher Form aus anderen Spielen kennt: Die Hexen einigen sich mittels verdeckt ausgelegter Identitätskarte auf ein Opfer, der Constable darf jemanden (nicht sich selbst) schützen, was durch Platzieren seines hölzernen Hämmerchens angezeigt wird. Wird es wieder Tag, erhalten alle Dorfbewohner zunächst Gelegenheit, zu „gestehen“, das heisst, eine ihrer noch verdeckten Fraktionskarten aufzudecken. Dadurch opfert man zwar einen Lebenspunkt, ist jedoch immun gegen einen allfälligen Angriff der Hexen. Und schliesslich wird der Angriff abgehandelt, was zum sofortigen Ableben führen kann, falls keine der möglichen Gegenmassnahmen ergriffen wurde.
Nein, Salem 1692 erfindet das Genre nicht neu. Die Chance, vor dem geschichtlichen Hintergrund einen thematischen und mechanischen Haken zu schlagen und für einmal nicht die angeblichen Hexen als die böse Fraktion darzustellen, hat man hier leider verpasst. Das Spiel beinhaltet aber einige Kniffe, die es dennoch und über seine attraktive Buchform hinaus zu einer lohnenden Anschaffung machen. Die Mechanik des sich ausbreitenden Hexentums beispielsweise, oder der Umstand, dass man von eigenen Aktionen nicht betroffen sein kann. Den netten Ideen hinsichtlich des Kartenmanagements (Anklage, Brandstiftung, Diebstahl) verzeiht man sogar das eine sonst absolute No-Go der „Du setzt eine Runde aus“-Karte (auch deshalb, weil eine Runde hier wie im Besenflug vorbei ist). Denn schliesslich hext Salem 1692 jene Art von Paranoia an den Tisch, die wir an Spielen dieser Art so lieben. Vorausgesetzt man ist bereit, für einmal beide thematischen Augen zuzudrücken!
Der dritte Teil der Dark Cities-Reihe wurde Anfang 2018 per Kickstarter finanziert, heisst Deadwood 1867 und entführt uns natürlich in den Wilden Westen. Verrat und Betrug unter Bankräubern ist Usus und thematisch kaum anfällig. Das nächste Buch für’s Regal ist folglich bestellt.
4 comments