Es war einmal ein Brettspiel, das hiess Civilization, und die Leute erfreuten sich daran. Eines Tages kam der gute Zauberer Sid vorbei und verzauberte es in ein nächteraubendes Computerspiel (sogar noch ein klein wenig nächteraubender als Railroad Tycoon), und von da an erfreuten sich noch viel mehr Leute daran. Und weil Rechnen für Zauberer Sids Zauberrechner Pipifax war, wurde das ehemalige Brettspiel dabei um viele Konzepte, Regeln und Optionen erweitert, und auch das war ganz prima. Problematischer wurde die Sache, als fliegende Händler auf die Idee kamen, aus diesem Computerspiel nun wieder ein Brettspiel zu erschaffen und dabei möglichst viele der neuen Konzepte zu übernehmen. Das Ergebnis war zwar offenbar schön anzusehen, aber es hatten nur wenige überhaupt dazu Gelegenheit. Und wenn doch, soll es oft das Letzte gewesen sein, was diese Ärmsten für sehr lange Zeit zu Gesicht bekommen haben.
Nun hat Zauberer Sid kürzlich Civilization für seinen mittlerweile noch schneller rechnenden Zauberrechner neu gezaubert, und da die fliegenden Händler so geschäftstüchtig wie anpassungsfähig sind, kam ihnen die Idee, auch ihr neues Brettspiel noch neuer zu überdenken. Die Ansprüche waren hoch: Verständlicher sollte es werden. Und etwa in der Zeit spielbar, die ein Elfenhaar benötigt, um vom obersten Ende der Gloomhaven-Kiste bis auf den Erdboden zu schweben. Und gestromliniert. Und trotzdem das typische Civilization-Erlebnis auf den Tisch bringen.

Die Titelgrafik der Kiste geht farblich neue Wege und zeigt damit auf Anhieb, dass es sich um eine neue Civilization-Inkarnation handelt. Der Inhalt ist üppig, aber für die üblichen Verhältnisse der „fantastischen Flieger“ nicht überbordend. Besonders ins Auge fallen die hübschen Städte und Planwagen aus Plastik sowie eine Menge annähernd „dreieckig“ geformter Geländeteile. Dazu kommen Tokens und Karten sowie ein zwar sechzehn Seiten umfassendes Regelheft, bei dem aber rasch klar wird, dass alles äusserst muggelsicher erklärt wird! Die acht Völkertableaus ganz, ganz unten in der Schachtel wirken bei dieser ersten Sichtung fast ein wenig verloren, obwohl sie schon bald eine zentrale Rolle einnehmen werden.

Denn sie sind das erste, womit wir uns auch bei dieser Civilization-Variante beschäftigen. Jedes Volk verfügt über eine spezielle Eigenschaft sowie eine eigene Ausgangslage (dazu später mehr). Haben alle bis zu vier Staatsoberhäupter ihr Material versammelt, folgt der Aufbau des Spielfelds – was noch am ehesten mit dem beliebten Entdeckungsaspekt im Computerspiel verglichen werden kann, denn ansonsten fehlt dieser völlig. Ist die Welt einmal gebaut, wissen alle, wo was liegt. Die Schöpfungsgeschichte ist allerdings ein interaktives Gemeinschaftsprojekt: Zunächst werden vier Geländeteile (halb) zufällig ausgelegt, danach baut man reihum weiteres Festland an. Auf einem davon befindet sich der Bauplatz unserer ersten Siedlung, genannt „Hauptstadt“ – es liegt also an uns, ein möglichst lauschiges Plätzchen zu konstruieren, bei dem uns aber auch möglichst niemand so rasch in die Quere kommt.

Die Landmasse besteht aus fünf Geländetypen, neben unseren Ausgangspositionen findet man darauf ab und zu auch Rohstoffvorkommen, Naturwunder, Barbaren oder neutrale Städte.
Als Motor unserer Zivilisation dienen lediglich fünf Karten, die entlang einer „Fokusleiste“ ausliegen. Jede Karte ist dort einem Geländetyp zugeordnet, dieser wiederum fest mit einer Punktzahl verbunden, die sich nach der Komplexität des Terrängs bemisst. Die Ebene entspricht der Eins, malerische Hügelzüge sind schon ein wenig anspruchsvoller (2), auf Position drei findet man Wälder, ganz oben auf der Skala finden sich Wüste (4) und Gebirge (5). Die fünf Karten wiederum entsprechen unseren lediglich fünf möglichen Aktionen. Ist man am Zug, wählt man eine davon aus, je weiter „oben“ auf der Skala sich die Karte befindet, desto stärker ist die zugehörige Aktion. Nach der Durchführung purzelt sie auf die „1“ herunter, alle anderen Karten rücken nach.

Ein Beispiel: Die Karte „Foreign Trade“ erlaubt es, unsere Karavanen um bis zu drei Felder zu bewegen. Welche Geländearten befahren werden dürfen, ergibt sich aus der Position der Karte beim Auslösen. Befindet sie sich auf Position „3“, dürfen beispielsweise nur Wälder und alle darunter liegenden Typen, also Hügel und Ebenen überquert werden. Wird die Karte hingegen auf Position „5“ ausgelöst, ist man für alle Geländetypen gerüstet. In jedem Fall wandert die Karte danach zurück auf die Position „1“, unsere Karavanen werden also zu Warmduschern – oder Ebenenfahrern.
Ein weiteres (und wichtiges) Beispiel: Zu Beginn unserer Zivilisation verlassen wir uns noch auf die Sterne – lösen wir die Karte „Astrologie“ aus, entwickeln wir unsere Zivilisation weiter und dürfen nach und nach verbesserte Aktionskarten freischalten, welche die bisherigen ersetzen. Es bleibt also bei den lediglich fünf möglichen Aktionstypen, nur werden diese immer effizienter. Dabei haben wir folgenreiche Entscheidungen zu treffen, denn es wird uns nicht möglich sein, alle fünf Bereiche gleichermassen zu entwickeln. Da empfiehlt es sich, ab und zu ein Auge auf die Siegbedingungen zu werfen!

Ja, keine Punkteleiste! Erfreulicherweise verzichtet Civilization: A New Dawn auf Erbsenzählereien und gibt uns stattdessen richtige Siegbedingungen. Entweder wir erfüllen sie – oder eben nicht. Dazu enthält das Spiel fünf Karten, von denen drei zufällig ausgelegt werden. Jede dieser Karten zeigt zwei mögliche Bedingungen, der Spieler, der als Erster von jeder Karte eine erfüllt, triumphiert. Hat man ein Ziel einmal erreicht, kann einem niemand mehr den Erfolg nehmen. Dadurch wird Endlos-Hickhack, beispielsweise um diese eine Stadt mit dem kritischen Weltwunder, verhindert. Die Siegbedingungen können etwa erfordern, dass man zwei Wunder einer bestimmten Kategorie zu bauen hat oder möglichst viele Technologien entwickeln soll, gegnerische Städte erobern muss oder eine Anzahl eigener Städte doch bitte voll entwickeln soll.

Voll entwickeln? Voll entwickeln! Civilization: A New Dawn verzichtet auf Details wie militärische Einheiten, grosse Persönlichkeiten oder Katastrophentokens – stattdessen ist dies alles in das einfache Konzept der Kontrollmarker integriert.

Die Aktionskarte „Early Empire“ (später heisst sie beispielsweise „Massenmedien“ und gibt richtig Gas) erlaubt uns, Kontrolle über unser Umland auszuüben, indem wir Kontrollmarker um unsere Städte plazieren. Sind alle Felder um eine Siedlung mit solchen belegt, ist sie „voll entwickelt“ und beginnt, Ressourcen zu generieren. Und tatsächlich werden mit Hilfe dieses einfachen Konzepts auch militärische Operationen durchgeführt (Angriffe dürfen innerhalb einer vorgegebenen Distanz von freundlichen Feldern erfolgen, zu denen die kontrollierten natürlich zählen). Nein, Einheiten und Infrastruktur werden nicht explizit platziert, aber man benötigt nicht sehr viel Fantasie um zu erkennen, dass wenn jemand seine Militärtechnologie so weit entwickelt hat, dass Flugzeuge verfügbar sind, der gerade neu errichteten Stadt die Funktion einer Luftbasis zukommt, in deren Einflussbereich ich mich jetzt dummerweise befinde. Und den Kopf entsprechend einziehe.

Aber eben – aller Anfang ist schwer. Und am Anfang war die Fokusleiste. Die Karten der Nationen liegen zu Beginn in unterschiedlichen Reihenfolgen aus, so dass etwa die Japaner auf Anhieb bereit sind, Kontrollmarker zu platzieren, die Sumerer auf beliebigen Geländetypen sofort eine zweite Siedlung bauen können oder die Amerikaner oft früh ihre Planwagen in Umlauf bringen. Und das ist die Gelegenheit, noch kurz den zweiten Geniestreich zu erwähnen, der das Spiel so schlank hält: Ob ich mit neutralen Städten handle, Barbaren oder Gegner angreife oder Ressourcen abbaue: Das Ergebnis sind entweder Handelsmarker, die auf meinen Aktionskarten platziert werden und diese einmalig verstärken, oder Ressourcenmarker, mit denen sich Weltwunder finanzieren lassen. Von letzteren liegen jeweils vier offen aus, die gebaut werden können – was sich meist lohnt, da sie starke Effekte mit sich bringen. Nur muss man sie irgendwo hinstellen können, also eine noch nicht beweltwunderte Stadt sein Eigen nennen. Und man darf sich nicht wundern, wenn einem die Kollegen die Wunder auch wieder abjagen.

… Wozu militärische Aktionen hilfreich sind. Und angreifen lässt sich vieles: Die erwähnten Barbaren, Städte und sogar feindliche Kontrollmarker. Je nach Gegner laufen Kämpfe leicht unterschiedlich ab, mal mit, mal ohne Würfelwurf. Mag sein, dass in der frühen Phase das Würfelergebnis noch relevant ist, bereits nach den ersten Runden gewinnen jedoch die technologischen Einflüsse und vor allem das eigene Token- und Kartenmanagement die Überhand, so dass man dem Zufall nur noch in Ausnahmefällen ausgesetzt ist. Kämpfe sind hier eine speditive Angelegenheit und Mittel zum Zweck, oder anders gesagt: Nur weil zwei sich kloppen, sitzen die übrigen nicht gelangweilt am Tisch.

Es liesse sich noch viel erklären (Barbaren kehren periodisch aufs Feld zurück, bis ihr Heimatgebiet unterworfen wurde, Naturwunder liefern ewige Ressourcen, Handelsbeziehungen mit neutralen Städten bringen Sondereigenschaften, ebenso eine friedliche Kontaktaufnahme mit einem Konkurrenten in Form der Diplomatiekarten), aber allem ist gemeinsam, dass es wesentlich komplizierter klingt, als es umgesetzt wurde – und dennoch hervorragend funktioniert. Am Besten, ihr probiert’s einfach aus!
Civilization: A New Dawn ist definitiv kein episches Spiel. Dazu dauert eine Partie nicht nur nicht lange genug, man hat auch nie das Gefühl, man befinde sich in einer Welt, die es erst noch zu entdecken gäbe und in der man sich an langsamen und stetigen Fortschritten erfreuen könnte. Ist das schlecht? Nun, man kann den Umstand auch positiv ausdrücken: Civilization: A New Dawn kommt schnell auf den Punkt, setzt die Spielerinnen von Anfang an unter Druck und verlangt nach einem zielstrebigen Vorgehen ohne Herumlümmeleien! Jede Entscheidung zählt, verschenkte Züge können sich katastrophal auswirken, und schliesslich – last but not least – schafft man auch zu viert locker eine Revanche noch am gleichen Abend!
Und obwohl der epische Aspekt (zu) kurz kommen mag: Der zivilisatorische tut es nicht. Natürlich: Dem einen oder der anderen mögen die Details fehlen. Militärische Auseinandersetzungen sind nach den ersten Runden berechenbar – und eben nicht der Hauptfokus des Spiels. Stattdessen geht es darum, weder eine Schlacht noch den Krieg, vielmehr das Spiel zu gewinnen – und das möglichst, bevor es jemand anderes tut. Mit dem ausgeprägten Fokus auf die Spielziele liefet A New Dawn letztlich genau das, was der Verlag versprochen hat. Mit tatsächlich eleganten Mechanismen zaubert das Spiel überraschend viel Civilization-Atmosphäre auf den Tisch, so dass die Revanche wohl gern angenommen wird. Anders gesagt: Diese Ausgabe ist tatsächlich zum Spielen, nicht zum Gucken da!
Mein einziger Vorwurf betrifft die fehlende Spielerhilfe. Ob unser Planwagen in eine neutrale oder eine andere Spielerstadt rumpelt, hat nicht die gleichen Folgen, ebenso ändern sich die Kampfabläufe abhängig davon, ob ich Barbaren verhaue, eine neutrale Stadt erobern oder die eines Konkurrenten übernehmen will. Ja, nach der zweiten Partie hat man das alles intus, dennoch sind diese Übersichten nützlich und sehr zu empfehlen.
Es ist allerschwerstens zu vermuten, dass Fantasy Flight auch hier dem Ruf als Erweiterungskönig schon bald gerecht werden wird. Ja, bitte! Es wäre dann allerdings zu hoffen, dass dies nicht auf Kosten der Eleganz und Leichtigkeit der Basisversion geschieht. Das Potential ist da: Neue Nationen, Weltwunder, Geländeteile, neutrale Städte, vielleicht gar eine fünfte Spielerfarbe? In diesem Sinne: Daumen drücken und Civilization: A New Dawn spielen!
Danke Zauberer Sid, danke fliegende Händler!
Die übrigen MUWINSer haben zwar erst gerade eben das Alphabet entwickelt, aber sie versuchen trotzdem, ihre Meinung schriftlich kund zu tun:
Lukebigboss: Bis jetzt wollte ich nach jeder Partie eine weitere anhängen. Dies ist ein sehr gutes Zeichen für ein Spiel. Ein kleiner Tipp am Rande: Das Setzen der eigenen Hauptstadt ist essentiell und muss wohl überlegt sein.
mratn: Zwei Partien eines Strategiespiels an einem Abend?!?!?! Mit Civilization geht’s! Die „kurze“ Dauer des Spiel – verglichen mit der Tiefe, die es dennoch mitbringt – hat mich überzeugt. Klasse Spiel!!
Mattthecrow: Diese Civilization-Version destilliert zwar viele genretypische Elemente auf ein Konzentrat, trotzdem ist jede nötige Geschmacksnuance vorhanden. Je nach ausliegenden Spielzielen, vorhandenen Zivilisationen und dem Aufbau der Karte wird die Partie unterschiedlich verlaufen. Mal ist grosse Expansion angesagt, mal wird geforscht und mal lässt man mehr als nur die Feuerwehr beim Nachbarn klingeln. Fans mag die Umsetzung vielleicht ein Tick zu abstrakt sein, aber für mich stimmt die Mischung.
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