1820 – als britische Emporkömmlinge streben wir nach Ansehen und Anerkennung in der High Society. Durch unsere Tätigkeiten in Indien haben wir Zugang zu Opium, das anderswo ebenso illegal wie gefragt ist. Glücklicherweise hat sich China zu diesem Zeitpunkt noch nicht als grosse Exportnation durchgesetzt – im Gegenteil: Seine Häfen sind geschlossen, lediglich einige verwegene Händler und verschupfte Missionare trauen sich bisher in die Region. Was liegt also näher, als das Zeug in diesem wachsenden Markt möglichst lukrativ unter die Leute zu bringen…
An Infamous Traffic von Cole Wehrle (Hollandspiele) kommt in einer Ausstattung daher, die für Kleinverlag-Spiele bis vor rund 10 Jahren halbwegs akzeptabel war: Kleine Pappmarker, ein gefaltetes Spiel“brett“ (eigentlich Spielpapier), von Hand (!) geschnittene Spielertableaus in dünner Papierstärke; beim Öffnen der Schachtel weht einem der intensive Geruch von Opium diversen produktionsbeteiligten Chemikalien (nicht von der Sorte, an welcher der wahre Geek sonst gern mal schnüffelt) entgegen. Anders ausgedrückt: Während das Titelbild zumindest interessant und „anders“ gestaltet ist, schrammt der Inhalt um Meilen an jeglicher Begeisterungsgrenze vorbei.

Der Name des Autors hingegen ist eher dazu geeignet, Aufsehen zu erregen: Cole Wehrle war, zusammen mit Phil Eklund himself, bereits für Pax Pamir verantwortlich – und das will etwas heissen! Von einem Wehrle-Design darf man in etwa das Gewicht von Splotter-Titeln erwarten, nicht zufällig nennt er deren Greed auch als Inspirationsquelle für das vorliegende Opium-Gedeale.
Womit wir wieder beim Thema wären, denn natürlich festigt eine Tätigkeit als Suchtmittelverkäufer nicht unbedingt unseren guten Ruf in der Gesellschaft des Empires. Vielmehr müssen wir unsere illegalen Einkünfte erst einmal gesellschaftsfähig reinwaschen. Zu diesem Zweck senden wir am Ende jeder der maximal vier Dekaden (= Spielrunden) einen unserer Nachkommen, ausgestattet mit mehr oder weniger liquiden Mitteln (zur Not auch geborgten), zurück nach England, um dort bleibende Eindrücke zu hinterlassen. Je mehr Flüssiges diese jungen Herren in der Tasche haben, desto grösser ist die Chance, dass dabei auch wirklich Zählbares herausschaut. „Zählbares“ bedeutet in diesem Zusammenhang letztlich Siegpunkte, um die sich in diesem Spiel fast alles dreht, allerdings eben sehr indirekt. Die ganze Geldverdienerei ist lediglich Voraussetzung dazu, bei Dekadenende den einen oder anderen grossen Coup zu landen.

Letzteres tut man, indem man möglichst wertvolle Marker abgreift. Deren Werte reichen von -1 bis +3, verteilt werden sie in absteigender Wertigkeit an die finanziell bestausgestattetsten Nachkommen der Wirtschaftsunternehmer, wobei immer (mindestens) einer leer ausgeht (man MUSS keinen Nachkommen entsenden). Welchen Sinn negative Marker machen, oder wieso man KEINEN Nachkommen nach England schicken sollte, meint ihr? Die Sache ist die: China ist weit weg, und man weiss dort nicht so recht, was zuhause gerade en vogue ist. Die Marker werden nämlich zu Beginn jeder Dekade verdeckt ausgelegt, in der folgenden „Gerüchtephase“ erhält jede Spielerin Gelegenheit, sich einen davon verdeckt anzusehen. Wenn das ein negativer Wert ist, sinkt die eigene Motivation zur Geldumwandlung schlagartig. Weitere Informationen kann man höchstens aus den Aktionen der Gegner erschliessen – es kann aber auch sein, dass die bluffen…

So viel zu Beginn und Ende jeder Spielrunde – kommen wir zum Mittelteil: dem Geldverdienen. Die Karte zeigt Regionen in China mit unterschiedlich vielen und langen Schmuggelrouten, über die der begehrte Stoff potentiell ins Land gelangen kann. Die Regionen unterscheiden sich danach, ob sie an der Küste liegen (und Häfen beinhalten), oder sich im Landesinneren befinden. Jede Route besteht aus Feldern, die mit Markern (= Unternehmen) unterschiedlicher Art besetzt werden können. Ist eine Route voll, ist sie aktiv und generiert Einkommen für alle daran Beteiligten.
Um überhaupt in einer Region agieren zu dürfen, sind „Nachfrage“ und „Gelegenheiten“ zentrale Konzepte. Der Gesamtwert aller in einer Region ausliegenden Würfel bestimmt die dort herrschende Nachfrage nach Opium. Eine „Gelegenheit“ simuliert hingegen Kontakte zu einschlägigen Geschäftspartnern vor Ort. Diese bestehen dann, wenn mindestens einer der Würfel in der Region mit einem Wert in der Würfelreserve übereinstimmt.
Nachfrage und Gelegenheiten ändern sich also durch Würfelbewegungen aus der und in die Reserve. Jeder neue Schmuggler in einem Gebiet bewirkt beispielsweise, dass ein Würfel aus der Reserve ausgewählt und neu geworfen wird, bevor er dort platziert wird. Dadurch erhöht sich die Nachfrage in der Region und es können auch neue Gelegenheiten entstehen – beziehungsweise aus anderen Regionen verschwinden, falls man einen entsprechenden Wert aus der Reserve abgezogen hat. Natürlich ist das dann jeweils ein Missgeschick und völlig unbeabsichtigt („Ups – das ist mir ja gar nicht aufgefallen…“).
Ist eine Route komplett belegt, wird geprüft, ob die insgesamt verlangten Preise nicht die Nachfrage der Region übertreffen. Ist die Summe gleich oder geringer, dürfen die Beteiligten ihr Einkommen entsprechend erhöhen. Für jeden involvierten Schmuggler wird nun die Nachfrage um jeweils einen Würfel verringert: Der kleinste ausliegende Würfel der Region wandert dazu unverändert zurück in die Reserve, was in anderen Gegenden wiederum neue Gelegenheiten schaffen kann.

Apropos Nachfrage: Ihr fragt euch vielleicht, was die eingangs erwähnten, verschupften Missionare in China so treiben? Nun, die breiten sich nach und nach zwar recht kontinuierlich aus, tun da aber ansonsten eigentlich nichts, ausser… die Opiumnachfrage in ihren Regionen durch anhaltendes Anpreisen bewusstseinserweiternder Transzendenzkatalysatoren anzukurbeln…
Die beschriebenen Mechanismen sind nur ein kleiner Ausschnitt aller möglichen Aktionen, das Spiel liefert ein Spektrum an thematischen Handlungsoptionen, welche das spartanische, abstrakt anmutende Design nie vermuten liesse. Bis hin zum einen oder anderen ausgewachsenen Opiumkrieg ist vieles möglich – als Folge eines solchen greift England übrigens militärisch ein und wird dabei möglichereise sogar einige Häfen permanent öffnen (wo und wie die Royal Army genau eingreift, lässt sich dabei durchaus gewinnbringend steuern). Dies bewirkt einerseits erleichterte Optionen für Geschäftstätigkeiten auch ohne Schmugglerbeteiligung, stattdessen mit Hilfe eigener Händler, da „Gelegenheiten“ nun unabhängig von ausliegenden Würfeln in offenen Regionen permanent vorhanden sind. Begleitend ist allerdings auch ein noch stärkerer Konkurrenzkampf und damit körperlich schmerzender Preiszerfall die häufige Folge.
Es besteht sogar die realistische Möglichkeit, dass das Spiel bereits vor Ablauf der vier Dekaden endet, nämlich dann, wenn China vorher vollends im Bürgerkriegschaos versinkt. Dies tritt umgehend ein, wenn der letzte Würfel aus der Reserve entnommen wird – was sich durchaus zielstrebig anvisieren lässt und völlig andere Siegbedingungen nach sich zieht: In diesem Fall gewinnt, wer die meisten Unternehmen im Land vorweisen kann, High-Society-Pipifax ist dann irrelevant.
Diese stark verkürzte (!) Darstellung der Mechanismen soll vor allem eines aufzeigen: Wie unglaublich verzahnt die einzelnen Elemente sind; verzahnt und … böse…
An Infamous Traffic erinnert an das fantastische Indonesia von Splotter – und ist doch anders. Hier wie dort ist man auf Kooperation angewiesen, um Gewinne zu erzielen. Hier wie dort sollte man sich nicht allzu stark emotional an seine eigenen Unternehmen, beziehungsweise etablierten Importwege, binden. Aber während in Indonesia auf eine recht stetig ansteigende Einkommenskurve gezählt werden darf, zerrinnt einem in China das Gewonnene oft ebenso schnell wieder zwischen den Fingern. Nicht von ungefähr macht Wehrle in den Designer-Notes explizit darauf aufmerksam, dass es sich hier nicht um einen Vertreter der typischen „Engine Builder“ handelt, die sich fast von selber nach und nach hoch schaukeln. In An Infamous Traffic muss vielmehr laufend um die eigenen Pfründe gekämpft werden (inklusive kratzen und beissen). Gezielte Manipulationen von Nachfrage und Gelegenheiten, militärische Abwehrmassnahmen gegen das Empire, Razzien, Unruhestiftung, Marktverdrängung durch Unterbieten von Konkurrenten oder der hier gar nicht erwähnte Marktleadermechanismus gehören zu den vielen Ebenen, mit denen man seinen Gegnern Knüppel unterschiedlichsten Durchmessers zwischen die Beine werfen kann.
Dies alles erfasst man mit Garantie nicht anlässlich der ersten Partie. Um sämtliche Zusammenhänge (oder auch nur die Mehrheit davon) zu durchschauen, sollte man sich – und dem Spiel – mindestens eine zweite, eher noch weitere Partien gönnen, bevor man ein Urteil fällt. Einerseits, weil es die verdient hat, andererseits, weil man dadurch selber grosszügig mit einem in mancherlei Hinsicht ungewöhnlichen Erlebnis belohnt wird!

Um An Infamous Traffic wirklich geniessen zu können, ist eine Persönlichkeitsstruktur enorm hilfreich, die masochistische wie sadistische Züge in sich vereint. Sind beide Aspekte in ausreichendem Ausmass vorhanden (oder hat man zumindest entsprechende Kompensationsstrategien entwickelt), geniesst man mit dem Spiel ein ungewöhnliches, kreatives und ideenreiches Werk fernab ausgetrampelter Schmuggelpfade, bei dem es mehr und mehr zu entdecken gibt, je länger man sich damit beschäftigt. Tatsächlich ist diese längere Beschäftigung sogar absout nötig, um die Zusammenhänge und Abhängigkeiten zu verstehen, denn „einfach so“ erschliesst sich einem das Spiel nicht. Fast könnte man so weit gehen zu behaupten, dass dieser Vorgang dem bewusstseinserweiternden Hintergrundthema nahe kommt. Kämpft man sich durch, ist es aber der sich dann offenbarende, spielerische Facettenreichtum, der den Preis des Spiels rechtfertigt, so dass man sogar hinsichtlich des Materials ausnahmsweise ein Auge zudrückt: Viel Spass beim nächsten Waschgang!
Nachtrag: Inzwischen ist auf Spielbar ein sehr bemerkenswertes und lesenswertes Interview mit den Hollandspielern erschienen. Wir sehen uns durch ihren Aufruf zu mehr Mut in Zusammenhang mit thematischen Weichspülereien gewissermassen bestätigt…
Ja, Cole Wehrle macht cooles Zeug. Ich bin ja schon sehr gespannt auf sein nächstes Ding, John Company, wo man sich als Geschäftsleute in der Britischen Ostindien-kompanie um koloniale Pfründe streitet. Schaut auch schon etwas professioneller designt aus.
… und ist vorbestellt 😉