Gravitation ist schon etwas Praktisches. Auch wenn die Menschheit sie immer wieder zu überwinden versucht – man stelle sich die Alternative vor! Nichts wäre mehr da, wo man’s hingelegt hat, die Frisuren würden nie wieder sitzen… ausserdem fördert sie ganz enorm den Zusammenhalt!
Verbundenheit hin oder her – Gravwell: Escape from the 9th Dimension (so der volle Titel) ist definitiv keine kooperative Angelegenheit! Im Gegenteil: Wir verkörpern in diesem Spiel von Corey Young (Cryptozoic/Renegade) Raumschiffkapitäne, die offenbar allesamt hinter der letzten Milchstrasse falsch abgebogen sind und nun gemeinsam in einer Singularität sitzen. Da dort naturgemäss recht beengte Zustände herrschen, würden wir uns gern daraus verabschieden – und einem von uns wird das sogar gelingen! Wer zuerst das Warp Gate am Ende der spiralförmigen Umlaufbahn erreicht, oder zumindest nach sechs Runden die weiteste Strecke (netto) zurückgelegt hat, gewinnt seinen dreidimensionalen Zustand zurück und freut sich darüber (haha…dreidimensional… darüber… der war subtil…)!

Die thematische Umsetzung der Gravitation führt zu einem eigenwilligen Rennen mit ebenso eigenwilligen, durchaus humoristischen Einlagen – die sich erfreulicherweise ungekünstelt aus dem Spiel selber ergeben. Der eingangs erwähnte Zusammenhalt ist gnadenlos und führt dazu, dass wir uns mehrheitlich als mehr oder weniger lang gezogener Klüngel fortbewegen. Ausbrüche werden von der Physik nicht lange geduldet, allzu vorwitzige Pilotinnen werden von der Realität, vor allem aber von der Konkurrenz meist rasch wieder ins Vakuum der Tatsachen zurückgeholt.
Die Regeln zu Gravwell sind denkbar einfach, klingen dabei eher trocken und haben entsprechend Mühe, den zu erwartenden Spielspass angemessen zu transportieren. Fürs Verständnis genügt es aber erst mal, wenn ich euch erzähle, dass wir unseren Flieger über Karten steuern. Auf diesen befinden sich drei Angaben: Das Kürzel eines chemischen Elements (wobei uns nur der erste Buchstabe interessiert), ein Zahlenwert und ein Symbol, welches die Art der Bewegung angibt. Denn einfach nur „vorwärts“ ist hier nicht. Vielmehr sind wir stark von der Position unserer Konkurrenten (meist des uns am nächsten positionierten) und von der Reihenfolge der Aktionsabwicklung abhängig.
Wer aufgrund dieser Kurzbeschreibung ein heilloses, unplanbares Durcheinander vermutet, liegt nicht ganz falsch. Aber auch nicht ganz richtig! Die Spielreihenfolge ist nämlich durchaus abschätzbar. Sie richtet sich nach dem erwähnten Anfangsbuchstaben der zunächst verdeckt ausgespielten Karten. Spiele ich also Argon (Ar) weiss ich, dass ich als erster am Zug bin. Je weiter hinten die Karte alphabetisch angesiedelt ist, desto eher muss ich damit rechnen, dass mir die Konkurrenz vor die Nase fliegt, oder davon weg – was beides entweder positiv oder ganz übel sein kann, je nachdem, wie ich die Runde geplant habe.

Die Symbole auf der Karte beschreiben die Art der geplanten Bewegung. Zwei davon beziehen sich auf das mir nächste Raumschiff, bei der letzten Variante agiere ich selber als Gravitationszentrum.
Diese gelben Karten sind der häufigste Typ. Sie bewirken, dass man sich in Richtung des nächst-positionierten Raumschiffs (und gegebenenfalls darüber hinaus) bewegt. Falls dabei Gleichstand herrscht, gibt die Anzahl der Raumschiffe in der jeweiligen Richtung den Ausschlag.
In der obigen Grafik ist die Karte durch den kurzen gelben Balken „B“ dargestellt, wobei die Länge des Balkens für die zugeordnete Zahl steht.
Lila Karten sind das Gegenstück der gelben Fortbewegungsmittel. Sie bewirken eine Abstossung vom nächstplatzierten Objekt. Entsprechend gefragt sind sie bei Führenden – aber wie man oben sieht, sind sie auch enorm selten. Lediglich vier Vertreter dieser Gattung wurden bisher in freier Wildbahn beobachtet.
Noch seltener sind blaue Karten, bei denen man selber Gravitationszentrum spielt. Ihr Effekt zieht alles auf dem Brett in Richtung der eigenen aktuellen Position. Diese Karten sind besonders geeignet, um Ausbrüche zu stoppen oder ganz allgemein übelste Turbulenzen der dunklen Macht zu erzeugen.
„Alles“ (und nicht nur „die Gegner“) übrigens deshalb, weil neben unseren aktiven Vehikeln auch noch zwei verlassene Raumschiffe als Weltraumschrott durch die Gegend driften, die offenbar bei früheren, ähnlichen Veranstaltungen das Nachsehen hatten, aber dennoch anziehend wirken…

Die Zahl als letzte Angabe auf der Karte steht schliesslich für die Bewegungsweite. Besetzte Felder werden dabei mitgezählt, beenden wird man einen Flug jedoch immer auf einem freien Feld.
Aus diesen wenigen Regeln ergeben sich oft mehr potentielle Interaktionen, als dem Singularitätsflüchtling lieb wären. Ein Beispiel…

Bleibt noch zu klären, wie man überhaupt zu den Karten kommt! Diese werden vor jedem der maximal sechs Durchgänge ausgelegt, und zwar in Zweierstapeln, wobei man lediglich die obere Karte zu Gesicht kriegt. Reihum (beginnend mit dem aktuellen Schlusslicht) wählt man ein Doppelpack und freut sich dann eventuell über die unbekannte Überraschung.
In dieser Draftphase ist ausserdem Teamwork gefragt! Liegt eine Pilotin weit in Führung, sollte beispielsweise vermieden werden, dass diejenige eine abstossende Karte erhält und damit den Vorsprung weiter ausbaut oder sich gar elegant ins Ziel rettet. Auch mit den seltenen „Gravitationszentrumskarten“ lässt sich die Konkurrenz vorübergehend zurückbinden.

Bei der Akquise nicht zu verachten sind im Übrigen die kleinen, frühen Karten. Während sich Gravwell-Novizen oft von hohen Bewegungswerten tief beeindrucken lassen, weiss der fortgeschrittene Pluralitätsaspirant den Kontrollaspekt früher Elemente zunehmend zu schätzen. Statt hoher Reichweite liegt die Stärke dieser Karten in der sicheren Planbarkeit der Zugfolge! Wie das Beispiel oben zeigt: Den unscheinbaren Hopser um ein Feld spielt man cool und mit unberührtem Gesichtsausdruck bevorzugt genau dann, wenn er die Konkurrenz möglichst tief ins Verderben stürzt…
Gravwell ist ein schöner Vertreter aus der Kategorie „unterhaltsames Spiel für zwischendurch“. Es erhält ausserdem unser Prädikat „auch für Einsteiger in die Spielewelt geeignet“ sowie die „Da-ist-mehr-dran-als-man-auf-Anhieb-vermuten-würde“-Ehrenmedaille. Ja, die Eigenschaften der Gravitation führen dazu, dass die Partien bis zuletzt eng bleiben und letztlich oft durch glücklich erhaltene Karten entschieden werden können. Aber der Weg bis kurz vor das Ziel ist mit seinen überraschenden Wendungen immer ausserordentlich vergnüglich – die kurzen Partien schreien nach Revanchen!

Hey, hier ein Spiel anzupreisen, dass nicht mehr zu bekommen ist ist unfair. So was macht man nicht 😏
Zu bekommen ist es durchaus noch – aber man muss zugegebenermassen ein wenig stöbern… 😉
Ja, nur meine gut sortierten Dealer haben es alle nicht mehr. Über den bgg market oder eBay gibt es das noch gebraucht. Ich hoffe auf die Wühltische auf der Messe Essen.