Ich bin ja eigentlich ganz zufrieden mit meinem Alter und damit, dass ich in den 80ern und 90ern gross geworden bin. Aber um eine Sache beneide ich Leute, die zwei-drei Jahrzehnte vor mir geboren wurden, schon: Sie durften die Mondlandung live am Fernseher miterleben. Es ist ja nicht so, dass es in meiner Zeit keine denkwürdigen Live-TV-Momente gab, die sich surreal anfühlten. Man denke nur an den Berliner Mauerfall, 9/11 oder wie die Schweiz 2018 Deutschland im Finale 3:0 schlug und Fussballweltmeister wurde. Ereignisse, welche die Extreme der Gefühlsskala ausloten und deren Bilder sich für immer in mein Gedächtnis gebrannt haben. Aber Menschen auf dem Mond? So etwas würde selbst heute sämtliche bisherigen Rekordeinschaltquoten pulverisieren und zumindest für mich alles im Flimmerkasten Gesehene in den Schatten stellen.

Wie unfassbar muss sich das erst recht für die Leute vor 50 Jahren angefühlt haben? Und welch immense logistische und technologische Leistung setzte dieses Unterfangen voraus, um es mit damaligen Mitteln erfolgreich zu gestalten? Leaving Earth (Joseph Fatula, The Lumenaris Group) lässt uns einen – natürlich sehr vereinfachten – Blick hinter die Kulissen dieses Ereignisses und der damit verbundenen Projekte werfen, welche eine ganze Generation prägten. Wir übernehmen darin nämlich die Leitung eines nationalen Raumfahrtprogramms und versuchen, vor unserer Konkurrenz gewisse, von Partie zu Partie variierende Meilensteine zu erreichen und dafür Prestige (sprich: Siegpunkte) einzuheimsen.

Um unser aktuelles Projekt voranzubringen, können wir während unseres Zuges Technologien erforschen; Raketenkomponenten kaufen, reparieren und zusammenbauen; mit einem Raumschiff manövrieren, an- bzw. abdocken; einen Planeten aus der Umlaufbahn inspizieren, Gesteinsproben sammeln sowie angeschlagene Astronauten heilen – all das in beliebiger Reihenfolge und so oft es unsere Ressourcen erlauben. Die Rechnung ist dabei ganz einfach: Je schwieriger eins der stets offen ausliegenden Projekte umzusetzen ist, desto mehr Punkte gibt es dafür. Diese kassiert ausserdem nur derjenige, der das Projekt als erster erfolgreich abschliesst – Nachzügler gucken wortwörtlich (wie die Sowjets 1969) in die (TV-)Röhre: Sie können sich nur noch über die vergebens ausgegebenen finanziellen und materiellen Mittel sowie die verlorene Zeit ärgern. Letztere ist nämlich gerade für mehrjährige Unternehmungen mitunter die wertvollste Ressource, zumal dieser Wettlauf im All auf eine Dauer von 20 Jahren (bzw. Runden) beschränkt ist.

Ich präzisiere: Die Siegpunktrechnung ist ganz einfach. Was bei Leaving Earth an weiteren Berechnungen anfällt, erfordert hingegen schon etwas mehr, ähm, Kalkül: Wie viel Schubkraft benötige ich zu welchem Zeitpunkt der Reise? Welche – und wie viele – Triebwerke sind somit am effektivsten für die geplante Strecke und die zu transportierenden Elemente (schliesslich lassen sich ausgebrannte Triebwerke unterwegs abwerfen und tragen fortan nicht mehr zum Gesamtgewicht bei)? Und wie integriere ich in diese Rechnung jetzt zusätzlich noch die Schwierigkeit der zu absolvierenden Manöver, welche sich ebenfalls direkt auf den benötigten Schub auswirkt? Ob solcher Überlegungen könnten normalsterbliche Gehirne schon mal anfangen zu rauchen, doch gnädigerweise hat der Autor eine nützliche kleine Tabelle beigelegt, welche unsere Planung erleichtert. Papier und Stift sind zwar immer noch nötig, wer jedoch über grundlegende Kenntnisse in Mal- und Plusrechnen verfügt, erfüllt im Prinzip die Qualifikationskriterien für die Stelle als Raumfahrtsprojektleiter. So artet das Spiel denn auch nicht in einen verkappten Mathematikwettbewerb aus, sondern belohnt letztendlich jene Mitspielerin, welche am cleversten geplant, Risiken am besten eingeschätzt und – grundlegenderweise – die anfallende Schubkraftberechnung korrekt durchgeführt hat.

Äh, Moment mal – was für Risiken? Wie wir und Houston spätestens seit Apollo 13 wissen, kann es im Weltall durchaus mal zu Problemen kommen. Diese können sich in Leaving Earth auf zwei Arten ins Spiel schleichen. Zuerst einmal sind da die Technologien: Sowohl Raketentriebwerke als auch Raumkapseln und diverse Manöver wie Landungen oder Ab- und Ankopplungen müssen nämlich erst einmal erforscht werden. Mit dem nötigen Kleingeld ist das zwar schnell erledigt, eine Garantie auf korrektes Funktionieren wird damit aber nicht geliefert. Stattdessen erhalten wir zu einer neuen Technologie drei Ergebniskärtchen, von denen wir bei jeder Nutzung derselben eines aufdecken müssen und uns überraschen lassen dürfen. Je nach Resultat erleiden wir mehr oder weniger gravierende Konsequenzen. Einmal aufgedeckt, lassen sich diese Kärtchen wegkaufen, so dass wir im Idealfall die entsprechende Technologie nach drei Anwendungen risikofrei nutzen können. Testphasen sind also empfehlenswert, wenn wir nicht während des Landemanövers auf Merkur plötzlich feststellen wollen, dass wir gar nicht recht wissen, wie dieses durchzuführen ist.

Das zweite Risiko ist – wie könnte es auch anders sein – die Komponente Mensch. Sobald wir uns nämlich zu bemannten Raumflügen entscheiden, setzen wir unsere tapferen Astro- bzw. Kosmonauten (wir können zwischen amerikanischen oder sowjetrussischen Helden wählen) erheblichen Gefahren aus: Auf mehrjährigen Reisen setzt ihnen die radioaktive Strahlung im All vehement zu. Diese lässt sich zwar durch fortschrittliche Raumkapseln abschwächen, gänzlich isolieren kann man sie aber nicht. Und so ist es letztendlich der Faktor W8, welcher über das Schicksal unserer Crew entscheidet.

Wie brutal und kaltblütig dieser Faktor ist, durfte ich kürzlich selbst erleben: Ich sandte drei aufeinanderfolgende Raketen in Richtung Mars, um dort eine bemannte Raumstation zu errichten. Zwar kamen alle Raumschiffe – planmässig – drei Jahre später in der Marsumlaufbahn an, makabererweise waren jedoch sämtliche Insassen in der Zwischenzeit der Radioaktivität im All zum Opfer gefallen. Und seither kreisen sie in ihren metallenen, weiterhin blinkenden und piepsenden Särgen um den Mars… drehen einsame Runden in der stillen, kalten Finsternis des Alls… und erschrecken dabei immer wieder unbedarfte Hobbyastronomen, die des Nachts ihre Teleskope auf den Mars ausrichten und plötzlich durch eine Lichtreflektion auf einer dieser Raumkapseln daran erinnert werden, dass da doch mal etwas war, vor bald 50 Jahren… und dann erstarren sie kurz, in dieser Nacht der kreisenden Leichen, bevor sie ihr Teleskop peinlich berührt neu ausrichten… Aber entschuldigt, ich schweife ab.

Diese beiden Risiken bringen zugleich auch das nötige Quäntchen Zufall ins Spiel, welches berechenbare Start-Ziel-Siege verhindert. Unterstützt werden sie in dieser Funktion ausserdem vom Umstand, dass sowohl die Mondoberfläche als auch jene der anderen, erdnahen Planeten zu Spielbeginn noch unerforscht sind. Ihre Geheimnisse geben diese erst preis, sobald zumindest eine Sonde in ihrer Umlaufbahn angelangt ist. Für ein Spiel, in welchem Erfolg oder Fehlschlag auf einer cleveren und möglichst verlässlichen Planung beruht, wurde damit bei Leaving Earth genau die richtige Menge an nicht gänzlich kalkulierbarem Extra beigemischt. Je nach ausliegenden Missionen sind die riskanten bemannten Raumflüge natürlich nicht zwingend, um die meisten Punkte zu ergattern. Jedoch können sie wagemutigen oder abgeschlagenen Planern die Möglichkeit bieten, mit etwas Glück noch entscheidend zu punkten. Und ausserdem sind es hier oft gerade sie, welche eine Partie – siehe mein Marsprojekt – umso denkwürdiger gestalten.

Wie ihr euch anhand des bisher Geschriebenen wohl denken könnt, beschränkt sich die Spielerinteraktion in Leaving Earth auf ein Minimum. So kann man mit Raketenteilen und der dazugehörigen Technologie sowie Geld handeln bzw. Komponenten der Mitspieler schon mal in die Erdumlaufbahn (oder sonstwohin) befördern, wo sie dann ihres weiteren Schicksals harren. Letzteres ist insbesondere bei komplexen Projekten eine nützliche – auch selbst anwendbare – Strategie, um Triebwerke einzusparen. All dies dürfen grossherzige Spieler sogar ohne Gegenleistung tun – etwas, worauf man natürlich in einer Partie mit Muwinsern vergeblich hofft. Ich finde solche „jeder grümschelt etwas für sich“-Spiele in der Regel nicht sonderlich spannend, hier bewirken aber das Thema sowie dessen gelungene Umsetzung, dass ich kaum bemerke, wie die Zeit vergeht.

A propos Zeit: Angesichts des ernsthaften Themenansatzes dürfte es wohl nicht überraschen, dass eine Partie gerne mal zwei bis drei Stunden in Anspruch nimmt. Während die Mitspieler dran sind kann man zwar bereits die nötigen Berechnungen für den nächsten Zug durchführen, aber es kann auch immer wieder zu unerwarteten Unfällen und dadurch erzwungenen, spontanen Neuplanungen kommen. Leaving Earth ist also nichts für Ungeduldige. Im Prinzip lässt es sich zwar mit bis zu fünf Spielern angehen, bei mir wird es aber wohl nur noch als Zweier- oder Solo-Spiel auf den Tisch kommen. Gerade Letzteres ist ebenfalls sehr empfehlenswert, falls ihr gerne mal alleine und in aller Ruhe vor euch hin plant. Die Spieldauer beläuft sich dabei auf eine gute Stunde, wenn Regeln und Abläufe erst mal sitzen.

Ja, zum Regelwerk sollte ich vielleicht auch noch etwas sagen. Dieses kommt auf den ersten Blick sehr nüchtern daher: viel Text, keine bunten Bildchen, themengemäss auch einiges an technischem Wortschatz. Aber! Es ist exzellent strukturiert, geizt nicht mit Beispielen (insbesondere für die anfangs etwas verwirrende, da rückwärts ausgeführte Schubkraftberechnung) und glänzt mit einem praktischen Index sowie zwei zusammenfassenden Übersichten, welche – wenn die grundlegenden Abläufe mal verinnerlicht sind – kaum noch ein Nachschlagen im Heft erfordern. Und sollte das doch mal nötig sein, findet sich die relevante Stelle schnell.

Die einzelnen Mechanismen sind stimmig in das noch unverbrauchte Thema eingebettet und wenn diese alle Mitspieler erst mal gegrokt haben, läuft das Spiel zuverlässig wie eine frisch betankte Sojusrakete. Dadurch, dass die Spieler im Prinzip geheim an den ausliegenden Projekten arbeiten, entsteht ganz natürlich eine angespannte, kompetitive, mit dezenter Paranoia durchdrungene Atmosphäre. Ein Spiel also, welches den Wettlauf der nationalen Raumfahrtprogramme in den Jahren 1956 bis 1976 auf gelungene Weise simuliert
Abschliessend lässt sich also sagen, dass Leaving Earth aufgrund von Komplexität, Spieldauer und der geringen Interaktion gewiss kein Spiel für jeden ist. Wer sich allerdings für das Thema zumindest ein Stück weit begeistern kann, mit Mathe nicht Spinnefeind ist, gerne plant und nicht mit der Einstellung ins Spiel geht, mal eben aus dem Bauch heraus ein paar Menschen auf den Merkur fliegen zu können, findet hier ein kleines Juwel (oder zumindest eine faszinierende Gesteinsprobe ausserirdischen Ursprungs).

So. Jetzt seid ihr dran.

Sehr schöner Artikel Pete… Ich kann mich noch gut an diesen Sommerabend mit Leaving Earth erinnern. Laufend wurden mir die Missionen weggeschnappt und fast alle meine Raketen explodierten. Kleine Flüchtigkeitsfehler zerstören dir die ganze Partie (aus dem Bauch heraus spielen geht nicht!). Daher bitte besser dutzende Male nachrechnen. Dies führt dazu, dass die anderen noch länger auf deinen Zug warten müssen. Für mich war die Wartezeit zwischen meinen Zügen zu lang. Ich bin eher von der ungeduldigen Sorte Mensch. Daher werde ich nicht mehr an einer Partie mit mehr als 2 Spielern teilnehmen. Zu Zweit? Warum nicht…
Schöne Rezi zu einem schönen Spiel – vorausgesetzt, man plant gern und hat eine Affinität zum Thema. Mich haben das Optimieren der Tonnagen, die Missionsplanng und der deutlich spürbare Bezug zum realen Hintergrund begeistert (nicht NUR des klaren, für alle Gegner demoralisierenden Sieges wegen). Allerdings ab jetzt auch lieber solo oder zu zweit. Aus meiner Sicht ist das Spiel auf diese beiden Spielerzahlen ausgelegt.
Ich gehöre zu denjenigen, die drei Jahrzehnte vor dir geboren wurden und damals war das schon ein Erlebnis im TV zu sehen wie der erste Schritt auf den Mond gemacht wurde.
Liebe GHrüße
Sigrid
„wie die Schweiz 2018 Deutschland im Finale 3:0 schlug“ du lebst wohl hinterm Mond?!
Schöne Rezension, aber das Spiel wird wohl nicht bei mir landen. Spieldauer und „Downtime“ zwischen den Zügen scheinen mir zu lange. Thema finde ich aber sehr interessant.
Ich lebe nicht nur dort, ich kann von dort dank Raum- und Zeitkrümmung sogar ein Jahr weit in die Zukunft sehen! Wir sprechen uns wieder, in gut einem Jahr, an dieser Stelle. 😉