Stadt der Spione: Estoril 1942 – Nerv‘ nicht!

Dieses Spiel hiess ursprünglich kurz und knapp Estoril 1942. Dementsprechend häufig war eine Klarstellung nötig, dass es sich hier nicht um ein Rennspiel handeln würde. Der neue Name Stadt der Spione  (Heidelberger Spieleverlag) wird dem Inhalt wesentlich gerechter: Wir befinden uns nämlich zur Zeit des Zweiten Weltkriegs an diesem Edel-Badeort, in dem sich damals mehr oder weniger illustre Gäste zwischen Casino, Strand und dem berüchtigten Teufelsschlund die Klinken in die Hand gaben… und sich dabei offenbar gegenseitig so was von auf den Geist gehen konnten.

Tatsächlich stellte das neutrale Portugal, und insbesondere das noble Örtchen Estoril, während dieser Zeit eine Drehscheibe für Geheimdienste jeglicher Couleur dar. Gil d’Orey und Antonio Sousa Lara liessen sich von der bewegten Geschichte der Gegend inspirieren und liefern uns mit Stadt der Spione ein Spiel, in dem nicht nur historische Geschehnisse dezent nachklingen, es beinhaltet auch diverse Lokalitäten, die bis heute existieren – worauf die Autoren im Regelheft explizit aufmerksam machen.

In Stadt der Spione geht es darum, den effizientesten Agentenring aufzubauen. Dabei verzichten wir auf jegliche weltanschauliche Überlegungen oder anderweitige Skrupel – wir stehen nicht etwa im Dienst einer spezifischen Nation, vielmehr weit über derart kurzsichtigen Überlegungen! Wir machen uns nämlich als Drahtzieher hinter den Bühnen des Weltgeschehens die Fähigkeiten und Eigenschaften von Agenten aller Seiten nach unserem Gutdünken und zu unserem persönlichen Vorteil zunutze.

Zu Beginn einer Partie verfügen alle Hintermänner (und -frauen) über die gleichen sechs mehr oder weniger talentierten Agentinnen (wer möchte, und sich für unterirdische Kalauer nicht zu schade ist, darf sie gern von 001 bis 006 durchnummerieren). Über die folgenden (lediglich) vier Runden sollen mit ihrer Hilfe stärkere Vertreter ihrer Zunft angeworben werden, die möglichst viele Siegpunkte wert sind. Denn ja, bei Stadt der Spione geht es um solche. Und nein, wir haben nicht grundsätzlich etwas gegen Siegpunkte – nur gegen schlechte Spiele mit selbigen. Und dazu gehört Stadt der Spione glücklicherweise nicht!

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Alle Spielerinnen beginnen mit dieser Standardcrew.

Damit später niemand überrascht ist, sag ich’s gleich: Auch wenn man noch so viele Superagenten auf seine Seite zieht – mehr als sechs aktive Spioninnen verträgt unsere Personalabteilung nicht (ihr wisst schon: Regelmässige Lohnzahlungen, Rentenberechnungen, Mitarbeitergespräche…). Für jede Neueinstellung müssen wir vielmehr bei Rundenende einen Mitarbeiter entlassen (das kann auch sofort wieder der Neue sein), indem wir ihn feierlich auf unserem persönlichen Ablagestapel entsorgen. Bei Spielende bringt jeder Ehemalige noch einen Siegpunkt – also nicht gerade nichts, aber doch beinahe – insbesondere wenn wir uns anschauen, wie viele Punkte aktive Spioninnen stattdessen beisteuern können…

Damit wären schon mal zwei Punktquellen geklärt, fehlt noch eine: Die Missionen, von denen zu Beginn einer Partie vier zufällige offen ausgelegt werden. Jede von ihnen verlangt bei Spielende nach einer Mehrheit bezüglich der abgebildeten Kategorie, wobei auch da nur die jeweils sechs dann noch aktiven Agenten jeder Spielerin beitragen können. Alleinige Mehrheiten bringen volle sechs Punkte, Gleichstände werden entsprechend geteilt.

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Vier der möglichen Missionen: Meiste weibliche Agentinnen, meiste US-Spione, höchste Gesamtstärke, meiste Spione aus „seltenen“ Nationen.

Aufgrund des angesprochenen Zwangs zur Personalreduktion müssen jede Runde mehr oder weniger (im besten Sinn) haarsträubende, gehirnzermarternde, nervenaufreibende Entscheide getroffen werden: Welche Agentinnen helfen bei den noch anstehenden Runden am meisten? Wo schwächeln meine Gegner, welche Missionen kann ich deshalb gegebenenfalls leichter abgreifen? Welche punkteträchtigen Mitarbeiter behalte ich aktiv, obwohl ihre Fähigkeiten eher mässig sind?

Apropos Fähigkeiten: Die verschiedenen Spione weisen davon sehr unterschiedliche auf. Allen gemeinsam sind die Eigenschaft „Stärke“ (im schwarzen Kreis oben links) sowie ihre Nationalität in Form einer Flagge. Darüber hinaus weisen weibliche Spioninnen sinnigerweise die Eigenschaft „weiblich“ auf (für die Jungs gibt’s hingegen kein eigenes Symbol, was mit den Missionen zusammenhängt). Neben diesen „Basics“ weisen die Agenten noch bis zu zwei weitere Fähigkeiten auf, und die bringen so richtig Pep in die Sache. Um sie zu verstehen, müssen wir uns aber erst einmal genauer ansehen, in welchen Gefilden wir uns überhaupt kloppen.

Aus den acht Ortstafeln werden jede Runde sechs gezogen und in zufälliger Ausrichtung in einem 2×3-Raster ausgelegt. Jede Tafel (mit einer Ausnahme) zeigt eine ortsspezifische Regel, drei offene, von I bis III nummerierte Felder (mit je einer abgebildeten Zusatzaktion) sowie einen gelb eingerahmten Bereich. Auf dieses Feld wird jeweils ein Agentenplättchen sozusagen als „Trophäe“ ausgelegt – sie oder er lässt sich an diesem Ort für die eigenen Machenschaften anwerben.

Durch die Auslage ergeben sich innere und äussere Felder; die äusseren (am Spielfeldrand) sind frei zugänglich, auf die inneren erhält man nur über benachbarte Felder Zugriff, wenn diese bereits eigene Agentinnen enthalten.

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Sechs der acht Ortskarten: Im Casino (oben links) spielt der Zufall mit, der Teufelsschlund (unten rechts) ist gefährlich und kann zu akuter, unbeabsichtigter Mitarbeiterminderung führen.

Wie oben dargestellt geht es nun darum, Runde für Runde diese stärkeren und/oder punkteträchtigeren Vertreterinnen und Vertreter ihrer Profession anzuwerben. Dazu platziert man auf der entsprechenden Ortskarte bevorzugt eigene Spione mit möglichst hohen Stärkewerten. „Bevorzugt“ bedeutet, dass es auch andere Optionen in Betracht zu ziehen gilt, denn auch schwächere Agenten haben durch ihre Fähigkeiten oft Trümpfe im Ärmel.

Reihum wird also nun ein Agent (meistens verdeckt, ausser am Strand…) platziert, ein Holzklötzchen der eigenen Farbe zur Kennzeichnung der Firmenzugehörigkeit darauf abgelegt und sofort die auf dem Feld abgebildete Aktion ausgeführt. Letztere erlauben üblicherweise, sich ein verdeckt ausliegendes Agentenplättchen am gleichen, einem benachbarten oder irgendeinem Ort anzusehen. Wurden jeweils drei Agentinnen (bei vier Spielerinnen) platziert, werden die Orte in numerischer Reihenfolge (1-8) ausgewertet. Innerhalb des gerade abzuhandelnden Ortes werden zunächst alle Agenten aufgedeckt, anschliessend die besetzten Felder I-III gleichermassen in dieser Reihenfolge aktiviert. Und dies ist nun der Moment, in dem die Fähigkeiten des Personals zum Tragen kommen.

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Eine deutsche Agentin und ein sowjetischer Spion – der zweite sogar mit entsprechender Doppelaktion.

Killer nerven und klingen auch nur wenig schlimmer als sie tatsächlich sind: Wer einen dieser Spezialisten aktiviert, darf einen anderen Agenten am gleichen Ort bestimmen, der zurück in die Hand seiner Besitzerin wandert. Das ist ärgerlich, denn seine Stärke zählt nun natürlich nicht für das Anwerbeverfahren! Der abgebildete Herr auf der rechten Seite nervt dabei gleich doppelt und wird vor allem zu Beginn einer Partie (falls er dann auftaucht) trotz der mageren Siegpunkteausbeute üblicherweise sehr umworben.

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Ein portugiesischer und ein deutscher Konspirateur.

Konspirateure nerven, denn sie ziehen verdeckt das oberste Plättchen vom Reserve-Agentenstapel und entscheiden, ob sie die ausliegende „Trophäe“ durch das gezogene Plättchen ersetzen oder nicht. Sie sind Spezialisten darin, den Gegnern die Pläne zu vermiesen. Hin und wieder gelingt es ihnen sogar, einen wenig begehrten Agenten billig anzuwerben und ihn durch ein zufällig gezogenes Prachtexemplar zu ersetzen.

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Der deutsche Nationalist ist ausserdem sehr stark, dafür liefert der Brite mehr Siegpunkte.

Nationalisten nerven, denn sie sind immer für Überraschungscoups gut. Jedes Plättchen mit der gleichen Nationalität an ihrem und einem benachbarten Ort erhöht ihre Stärke um +1, wobei sie von Freund und Feind gleichermassen profitieren. Sie entfalten ihr volles Potential folglich vor allem an Orten mit höheren Nummern, wenn die angrenzenden Ortsteile bereits aufgedeckt wurden. Es geht das Gerücht um, dass sogar ein Doppelnationalist sein Unwesen in und um Estoril treiben soll…

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Frau Zsa Zsa G. und Herr Fleming wirken recht anziehend…

Verführerinnen (es gibt allerdings auch männliche Exemplare) nerven, denn sie sind die Hauptverantwortlichen für das grösste Chaos auf dem Spielfeld. Verführerinnen ziehen Plättchen von benachbarten Orten auf freie Felder des eigenen Ortes. Sie können dadurch die eigene Stärke am aktuellen Ort erhöhen, oder jene von Gegnern an anderen schwächen. Wird ein Agent durch diesen Effekt bewegt, zählt dort nur seine Stärke, die Spezialfähigkeit wird ignoriert. Kettenreaktionen können beim besten Willen nicht ausgeschlossen werden…

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Diese beiden Diplomaten liefern so nebenher noch eine Menge Siegpunkte.

Bei dem ganzen Generve muss ja jemand kühlen Kopf bewahren: Diplomaten schützen andere Agenten am eigenen oder einem benachbarten Ort vor Killern oder Verführerinnen, indem sie einen weissen Würfel darauf platzieren, wodurch diese  gegenüber entsprechenden Effekten diplomatische Immunität geniessen (das Leben kann so einfach sein).

Wurden alle Orte abgehandelt, nehmen die Hinterfrauen alle ihre bisherigen und gewonnenen Karten und Klötzchen zurück in den eigenen Bereich, anschliessend müssen die aktiven Agenten auf sechs reduziert werden. Wurden die abzuwerfenden Karten ausgewählt, wird die Auswahl kommuniziert und in einem offenen Stapel gesammelt. Nach vier Runden werden die Missionen abgerechnet, die Punkte zusammengezählt und der Siegerin gratuliert.

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Zu Beginn der Aktivierung: Ort 2 (oben links) wird als erster abgehandelt, dort zunächst Feld I mit der grünen Agentin. Ihre Stärke beträgt 2, der blaue Kollege vor Ort weist den gleichen Wert auf. Allerdings kann die grüne Verführerin eine Karte von einem angrenzenden Ort auf das freie Feld ziehen, zum Beispiel ihren eigenen Agenten von Ort 8. Damit dürfte sie Ort 2 gewinnen. Der blaue Nationalist war ungeschickt gespielt und geht leer aus. Die Agenten am Strand (Ort 3) liegen bereits offen aus, da… nun ja.. es ist der Strand…

Auch wenn sich zum Ende nur der oder die eine so richtig freuen darf (aufgrund mehrerer Tiebreaker sind Unentschieden enorm selten): Stadt der Spione macht richtig Laune – vorausgesetzt, man hält es aus, auch mal zünftig eins auf die Rübe zu kriegen. Für die im Grund recht abstrakten, beinahe schachverwandten Spielzüge geht es hier nämlich erstaunlich handfest zur Sache. Durch die Orts-, Feld- und Agenteneigenschaften sowie die Geografie (welche Felder sind wie zugänglich und werden in welcher Reihenfolge abgehandelt) ergeben sich Winkelzüge und Kombinationsmöglichkeiten, die man dem Spiel nach dem ersten Eindruck gar nicht zutrauen würde. Die recht kurzen Partien liefern dennoch ausreichend Möglichkeiten, den starken Max zu markieren, aber auch Bluff- und Hasenfusstechniken sind durchaus valable Mittel, um möglichst viele Kolleginnen und Kollegen am Tisch richtig zu nerven!

Stadt der Spione hat bereits kurz nach seinem Erscheinen, noch in der portugiesischen (sprachunabhängigen) Originalversion, den Weg zu uns MUWINS gefunden – wir haben die Anschaffung nie bereut!

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… und so wird auch die angekündigte Erweiterung: City of Spies: Double Agent Expansion über allerlei geheime Kanäle und dunkle Machenschaften sicher bald bei uns untertauchen. Wir lassen euch entsprechend verschlüsselte und selbstzerstörende Botschaften zukommen, wenn wir mehr wissen…

2 comments

  1. Danke für die schöne Besprechung. Estoril ist wirklich eine Spieleperle, die zu wenig beachtet wird. Die Erweiterung wird übrigens auch nächstens auf Deutsch unter dem Titel Falsches Spiel erhältlich sein.

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