Escape from 100 Million B.C. – Roll through the Mesozoikum

H.G Wells statt H.P Lovecraft: Das bedeutet in diesem Fall Mesozoikum statt Arkham, grosse Echsen statt grosse Alte, Paradoxien statt Paranoia. Kevin Wilson (IDW Games) versorgt uns einige Jahre nach seinem Kult-Spiel Arkham Horror mit einem weiteren literarisch inspirierten Werk, das hinsichtlich Story und damit verbundenen Entwicklungsmöglichkeiten ähnliches Potential zum Dauerbrenner aufweist. Kann Escape from 100 Million B.C. derartige Erwartungen erfüllen?

Fleissige MUWINS-Leser wissen: Mit einem Zeitreise Thema rennt man bei diesem Verfasser a priori offene Türen ein. Die erste (innere) Reaktion beim Anblick des bunten Schachtelbildes lautete zwar: „Ui, Trash!“, nach dem Lesen des Handlungshintergrundes führte aber am nicht ganz günstigen Erwerb der Box dennoch kein Weg mehr vorbei. Die Beschreibung besagt nämlich, dass unsere Zeitmaschine eine klitzekleine Störung im Getriebe hat und sich deshalb unsere Rückreise aus eingangs genanntem Mesozoikum (das war, als hier noch Dinos rumsaurierten) ein klitzekleines Momentchen verzögert. Die primäre Aufgabe an unsere Truppe lautet also, die Maschine wieder in Gang zu setzen.

Aber damit nicht genug: Durch die eingetretene Störung des Raum-Zeit-Kontinuums öffnen sich auch andauernd klitzekleine neue Zeitrisse, durch die nun in unregelmässigen Abständen Personen oder Gegenstände aus diversen Abschnitten der Menschheitsgeschichte flutschen und sich in der Umgebung unseres Landeplatzes (der idealerweise genau auf einem demnächst ausbrechenden Vulkan liegt) wiederfinden. Diese Leute (oder auch mal Gegenstände) sind hier grundsätzlich ebenso fehl am Platz wie wir.

Ausserdem hat unser letzter Startversuch offenbar eine klitzekleine Explosion verursacht, die dazu geführt hat, dass Teile der Zeitmaschine und praktisch alle unsere mitgeführten Gegenstände ebenfalls im Umland des Gebirgszuges verteilt wurden. Da seit Star Trek unsere oberste Direktive lautet, dass wir uns nicht in die Entwicklung anderer Spezies einmischen (jeder nur halbwegs kompetente Jurist würde uns in diesem Fall allerdings problemlos rausboxen, schliesslich geht es hier um unsere eigene Spezies), sollten wir das Gerümpel vor unserer allfälligen Rückreise fein säuberlich wieder einpacken. Nicht auszudenken, was geschieht, wenn sich ein dahergelaufener Homo Erectus mit einem zufällig in der Urgeschichte herumliegenden Schokoriegelpapier beschäftigt, statt sich um die eigene Persönlichkeitsentwicklung zu kümmern.

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Zivilisatorische Errungenschaften helfen oft gegen gefrässige Dinosaurier. Bleiben sie zurück, können sie aber auch mal die Zeitlinie durcheinander bringen. So ein Schokoriegel, der im falschen Jahrtausend zum Vorschein kommt, kann ganz schön verheerend wirken…

Paradoxien sollten also, nicht ganz überraschend, möglichst vermieden werden. Leider können sie aber durch unterschiedlichste Ereignisse hervorgerufen werden:

  • Wir lassen zu viele Gegenstände in der Urzeit herumliegen.
  • Wir lassen zu viele Gestrandete als Echsenfutter zurück.
  • Zeitrisse bleiben zu lange geöffnet.
  • Wir murksen Dinos ab.

Dieser letzte Punkt ist durchaus interessant und hält uns nachhaltig davon ab, wild um uns ballernd durch die Urzeit zu stapfen. Nicht, dass wir dazu ausreichend Munition dabei hätten…

Festgehalten wird der aktuelle „Paradoxie-Status“ mittels einer entsprechenden Leiste, an deren Ende der Vulkanausbruch steht. Auch der wäre möglichst zu vermeiden. Schreitet der Anzeiger auf der Leiste voran, öffnen sich nach und nach weitere Zeitrisse – zusätzliche Personen („Gestrandete“) oder Gegenstände gelangen aufs Spielfeld, die unsere Aufgabe weiter erschwert, möglichst alle von ihnen einzusammeln (wenn es sich um Gegenstände handelt), beziehungsweise sie von unseren guten Absichten zu überzeugen und sie über „ihren“ Riss zurück in die Zukunft zu bugsieren.

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Die Gestrandeten sind mal mehr, mal weniger prominent, misstrauisch und paradoxiefördernd…

Ja, Zugegeben – das klingt ziemlich abgefahren! Und vielversprechend!

Im Spiel entscheiden wir uns zunächst mal für je einen von sechs Charakteren, die (Überraschung!) alle unterschiedliche Eigenschaften aufweisen. Ihren entsprechenden Marker setzen wir auf das Vulkanfeld im Zentrum des Spielfelds. Je nach Spielerzahl ist von Beginn an eine Anzahl Zeitrisse aktiv, entsprechend befinden sich bereits verwirrte (oder auch nicht, wenn es sich um Gegenstände handelt) Gestrandete aus anderen Zeiten auf dem Spielfeld, in einiger Distanz von „ihrem“ Riss.

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Aus diesen sechs Optionen rekrutieren wir unsere Crew.

Unsere wichtigste Eigenschaft ist erst mal die Geschwindigkeit. Sie bestimmt, wieviele Aktionen wir durchführen können. Durchführbare Aktionen sind bewegen und… nun ja: Bewegen. Weitere Handlungsmöglichkeiten, wie etwa das Aufnehmen oder Tauschen von Gegenständen, benötigen nämlich keine Aktionspunkte. Folgerichtig beginnt man seinen ersten Zug spontan und innovativ mit einer Bewegung. Man wählt dazu ein zum Vulkan angrenzendes Feld, zieht ein zufälliges, dem Gelände entsprechendes Plättchen, legt es regelgerecht an und folgt gegebenenfalls seinen Anweisungen. Auf derartigen Geländeplättchen finden sich manchmal Blockaden, Blumen, Zeitmaschinenteile, Abenteuer, Begegnungen oder Kisten – durchaus auch in Kombination.

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Die Truppe beginnt das Spiel auf dem mittigen Vulkanfeld, umgeben von eher harmlosem Gebirge.

Blockaden versperren den Durchgang in die entsprechende Richtung – ausser, man ist mit passendem Werkzeug (Machete) und einer Prise eisernem Willen ausgerüstet, Blumen wirken erbauend und erhöhen beim Entdecken den persönlichen Vorrat an Willensplättchen. Zeitmaschinenplättchen bringen uns der ultimativen Siegbedingung und der Rückkehr in unsere Zeit näher, wenn wir Genügend davon zurück zum Vulkan bringen.

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Hier wurde schon fleissig entdeckt. Die Ebene (hellgelb) ist eher offen, der Dschungel (dunkelgrün) wird hingegen schnell zum Labyrinth (braune Blockaden).

Abenteuer, Begegnungen und Kisten werden alle ähnlich abgehandelt: Man zieht eine entsprechende Karte und befolgt sie, beziehungsweise legt sie in den eigenen Vorrat. Stösst man beispielsweise auf einen Dinosaurier (und das soll in der Gegend durchaus vorkommen), steht man vor der Wahl, davonzurennen, den Kampf auf Leben und Tod mit dem Vieh aufzunehmen, oder es zu verscheuchen – wozu man allerdings bewaffnet sein muss. Der eine Nachteil eines Kampfes auf Leben und Tod ist, dass auch der Dino gewinnen kann. Andererseits bringt aber so ein vorzeitig abgemurkstes Echsenexemplar eben auch die Zeitlinie durcheinander, was unseren Paradoxie-Anzeiger gleich um zwei Stufen erhöht. Sicherer ist es, das Tier mit einem gezielten Schuss in weniger lebenswichtige Körperregionen zum Verzicht auf seine Zwischenmahlzeit zu überreden. Das wiederum benötigt Nervenstärke, sprich: einen Willensmarker.

Bringt man das Tier um die Ecke, wird die Karte aus dem Spiel entfernt. Bei einer Flucht verbleibt eine Figur an der momentanen Position, während man selber in eine zufällig bestimmte Richtung verschlagen wird (dabei kann es auch passieren, dass man ein neues Geländefeld entdeckt). Gelingt es einem, die Echse zu verjagen, wird ihre Karte auf den Abwurfstapel gelegt, kann aber zu einem späteren Zeitpunkt wieder in Erscheinung treten (was besonders unangenehm ist, wenn es sich um ein übermässig gefrässiges Exemplar handelt). Ob da wohl jemand ein klitzeklein wenig von Robinson Crusoe inspiriert wurde…?

Ob Flucht vor dem oder Kampf gegen den Dino: In beiden (und viiiiiielen weiteren) Fällen hat man eine Würfelprobe zu absolvieren. Der Wert der involvierten Eigenschaft (Muskelkraft, Willensstärke, Gesundheit, Geschwindigkeit) zeigt dabei an, wie viele Würfel man werfen darf, gleiches gilt für den zu erreichenden Wert. Oft lässt sich die eigene Fähigkeit durch Gegenstände zusätzlich verbessern (zivilisatorische Errungenschaften verschaffen einem in der Urzeit gewisse Vorteile – mit zu den beliebtesten gehören etwa Maschinengewehre). Der Eindruck bleibt: In diesem Mesozoikum wird enorm viel gerollt …

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Tyranno Rex gegen Paläontologin mit Elefantengewehr. Der Dino schmeisst mit neun Würfeln, (6en explodieren) und erreicht total 5 Treffer. Das muss die Paläontologin mit 6 Würfeln (3 Stärke + 3 durch das Gewehr) nun erst mal schaffen. Und die Munition wird auch knapp…

Jede 4, 5 oder 6 stellt einen Erfolg dar, wobei jede 6 „explodiert“, also erneut gewürfelt werden darf und weitere Erfolge produzieren kann (auch erneut „explodierend“). Um eine Probe zu bestehen, muss mindestens die Anzahl der gegnerischen Erfolge erreicht werden.

Die Gegner weisen dabei thematisch unterschiedliche Sondereigenschaften auf wie etwa Herdenverhalten, besonders gefährliche Angriffe oder die Fähigkeit, im Hinterhalt zu lauern – was eine der Stärken des Spiels darstellt. Diese Mechanismen sind thematisch, und es macht Spass, die verschiedenen Verhaltensweisen der Urviecher nach und nach zu entdecken (wer erstmals einem Tyrannosaurus Rex in die (kleinen) Hände läuft, kann ein Lied davon singen).

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Unter den Dinos findet man Fleischfresser, Pflanzenfresser und Wasserbewohner. Was nicht zwingend etwas über deren jeweilige Gefährlichkeit aussagt…

Nachdem alle Teammitglieder ihre Züge absolviert haben, werden ein roter und ein weisser Würfel geworfen. Aus den Werten ergeben sich drei Konsequenzen: Der rote Würfel bestimmt die Bewegungen von Dinosauriern und herumirrenden Gestrandeten (die auch selbständig versuchen, in ihre Zeit zurückzufinden, dabei aber eher ungeschickt agieren und auch mal einem streunenden Dino ins Maul laufen), aktuell geöffnete Zeitrisse verursachen einen Anstieg der Paradoxie-Skala, wenn ihre Nummer mit einem Würfel übereinstimmt, und die Summe beider Würfel kann bewirken, dass sich ein weiterer Zeitriss öffnet.

Werden eine ausreichende Anzahl Maschinenteile (je nach gewählter Schwierigkeit) zum Vulkan transportiert, kann die Zeitmaschine in Gang gesetzt werden. In diesem Fall bestimmt sich aus den zurückgelassenen (nicht gefundenen) Gegenständen und Gestrandeten ein Punktwert, der auf der letzten Seite des Regelhefts ausführlich darüber Auskunft gibt, wie sich die Welt durch unser mehr oder weniger sauberes Eingreifen bei der Rückkehr entwickelt hat.

Der Reiz von Escape from 100 Million B.C. beruht neben der Hintergrundgeschichte auf den überraschenden Gestrandeten-, Ereignis- und Dinosaurierkaren – zumindest so lange diese Karten überraschend sind. Hat man sie einmal gesehen, beschränkt sich das Spiel weitgehend auf das Ziehen und Befolgen von Geländeplättchen, das Ziehen und Befolgen von Ereigniskarten und … Würfeln. Viel, viel Würfeln. Ich würde nicht so weit gehen zu behaupten, dass keine echten Entscheidungen zu treffen sind, aber .. nun ja… die Menge ist überschaubar. Spielerisch ist das Ganze denn auch eher eine magere Kost.

Den stärksten Eindruck macht das Spiel noch zu Beginn einer Partie, wenn die eigene Umgebung erkundet wird, sich nach und nach die Laufwege vom und zum Vulkan erschliessen und man auf durchaus witzige Gestrandete und überraschende tierische Bewohner trifft. Über diese Anfangsphase hinaus geht die Spannungskurve aber recht schnell in einen steilen Sinkflug über. Zu repetitiv wirkt der Spielablauf auf Dauer, allzu glückslastig das Aufdecken der Geländeplättchen auf der Suche nach den noch fehlenden Maschinenteilen, die vielen Würfeleien ganz zu schweigen.

Das Spiel macht leider den Anschein, als wären hier aus anderen Spielen altbekannte Standards unter Zeitdruck zu einem neuen Titel zusammengeschustert worden, um eine ansprechende Hintergrundstory mit schönen Kartenideen zu verbraten. Dieser Eindruck wird unterstützt durch ein Regelheft, das so einige Details völlig unerwähnt lässt, die eigentlich zum Standard jedes Regelwerks gehören (beispielsweise das Timing beim Einsatz von Aktionskarten). Auch eine Spielehilfe wird schmerzlich vermisst, denn obwohl die Regeln einfach sind, können durch diverse mögliche Interaktionen so einige Spezialfälle auftreten. Über diese kleinen Mängel kann man hinwegsehen und sich zur Not selber behelfen. Gravierender bleibt aber: Wäre in die Entwicklung der grundlegenden Mechanik nur annähernd so viel Kreativität geflossen wie in die verschiedenen Karten – Escape from 100 Million B.C. wäre zweifellos ein besseres Spiel geworden.

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