Ein bedeutender Vorteil, an der Sprachgrenze zwischen Deutsch und „Welsch“ zu leben, besteht darin, dass man sich auch mal ein französischsprachiges Spiel zulegen kann, das in anderen Sprachen noch nicht erhältlich ist. So geschehen unter anderem Ende 2015 mit Les Poilus (Fabien Riffaud & Juan Rodríguez, Sweet November), also bereits lange vor der „Spiel 2016“. Dass dann von dort zusätzlich auch noch die deutsche Version mit nach Hause kommen durfte, spricht Bände…
Das kooperative Spiel beschreibt das Schicksal einiger Kumpel aus einem unbeugsamen ungenannt bleibenden französischen Dorf, die 1914 in die Armee eingezogen werden und dort versuchen, die Schrecken des Ersten Weltkrieges zu überleben, um gemeinsam und wohlbehalten nach Hause zurückzukehren. Es wäre folglich fehl am Platz, hier den grossen Stimmungskracher zu erwarten. Les Poilus lockt stattdessen mit anderen Versprechen: Da wäre zum Einen die Tatsache, dass die Illustrationen als die letzten Werke des beim Anschlag auf Charlie Hebdo ermordeten Karikaturisten Tignous angesehen werden. Zum Anderen handelt es sich bei manchen der dargestellten Personen um reale Soldaten und Ahnen einiger Mitarbeitenden des Verlags. Man darf folglich der Aussage Glauben schenken, dass es sich bei der Produktion von Les Poilus um eine echte Herzensangelegenheit der involvierten Personen gehandelt hat.

Noch entscheidender für die Spielergemeinde dürfte allerdings sein, dass das Spiel mit einigen überraschenden Mechanismen frischen Wind ins Kooperationsgenre bringt.
Les Poilus – so wurden die französischen Frontsoldaten des ersten Weltkriegs genannt. Eine Übersetzung des Adjektivs „poilu“ mit Hilfe eines herkömmlichen Nachschlagewerks liefert als Ergebnis „behaart“. Daraus wird heutzutage die Erklärung abgeleitet, der Name beziehe sich auf die unrasierten Gesichter. Klingt plausibel, oder? Ist nur leider falsch! Tatsächlich steckt mehr dahinter: Der Begriff geht auf Molière zurück («avoir du poil» oder «quelqu’un qui a du poil au ventre»), tauchte bereits bei Austerlitz als Bezeichnung für die französischen Soldaten auf und stand damals wie auch ab 1914 für die Eigenschaften „Mut“ und „Männlichkeit“. Dass die Leute tatsächlich oft auch unrasiert waren, hat mit dem zeitgenössischen Begriffsverständnis offenbar wenig zu tun.
Aber zurück zum Spiel: In Les Poilus verkörpern wir zwei bis fünf Kameraden, die sich gegenseitig durch die Kriegsjahre begleiten – zumindest laut Schachtelaufdruck. In Wahrheit sollte man zu zweit um das Spiel einen grossen Bogen machen, zu dritt lieber etwas anderes wählen, zu viert oder fünft darf man sich jedoch getrost hinsetzen. Ja, man darf nicht nur, man sollte sogar. Denn Les Poilus setzt ein geradezu erschlagendes, deprimierendes Thema in rund 30 Minuten gekonnt um, so dass die involvierten Freunde mehr und mehr in der Geschichte versinken und mit den Kollegen leiden – oder sich freuen, falls der Erfolg nach herben Rückschlägen dann doch einmal eintreffen sollte.
Das Erstaunliche daran: Les Poilus ist quasi ein Kriegsspiel ohne denselben. „Ist die Freundschaft stärker als der Krieg?“ steht denn auch vorne auf der kleinen Schachtel und trifft damit genau, worum sich das Spiel dreht: Gegenseitige Rücksichtnahme und Hilfeleistung unter widrigsten Umständen.

Und die sind tatsächlich schampar widrig, die Umstände. Das Spiel beginnt mit einer kleinen Auslage: Jeder wählt sich einen Soldaten und erhält drei Marker „Unterstützung“. Von diesen trägt jeweils einer einen Pfeil nach links und nach rechts, der dritte wird zufällig gezogen. In der Tischmitte werden Friedenskarte und Monument ausgelegt, anschliessend 25 Karten zufällig auf die Friedenskarte als Herausforderungsstapel, die restlichen 34 auf die Monumentkarte als Moralstapel gepackt. Schliesslich gibt’s noch einige Ansprachetokens, fertig ist der Aufbau.

Ziel des Spiels ist, die Friedenskarte sichtbar werden zu lassen, ohne dass vorher das Monument mit den eingravierten Namen unserer Soldaten erscheint (was das bedeuten würde, ist leicht zu erraten), sprich: Der Herausforderungsstapel muss weg, bevor der Moralstapel auf Null sinkt. Dies erreicht man, indem man Missionen erfolgreich übersteht. Bei einem Misserfolg leert sich die Moral um so schneller – geschieht dies zu oft, liegt der Klotz in Nullkommanichts frei und das war’s dann.

Jede Runde wird ein Soldat zum Anführer der Truppe. Dieser entscheidet, wie schwierig die bevorstehende Mission werden soll, konkret: Er sagt an, wie viele Karten vom Herausforderungsstapel jeder Soldat erhält. Die Vorteile einer höheren Zahl liegen sozusagen auf der Hand: Der Herausforderungsstapel nimmt ab und die grössere Kartenauswahl erlaubt mehr Flexibilität. Allerdings: Nicht umsonst nennt das Regelheft für die erste Runde eine Mindestschwierigkeit von drei und verhindert damit allzu einfache Missionen. Denn viele Karten bedeuten auch, dass viel in die Hose gehen kann. Nach Abschluss einer Mission wird nämlich die Summe aller nicht ausgespielten Karten vom Moralstapel auf den Herausforderungsstapel transferiert (die Friedenkarte also wieder weiter „vergraben“), ausserdem behält man die Karten für die nächste Runde, was dann auch wieder übel enden kann.
Wurden die Karten, wie vom Chef befohlen, verteilt, beginnt dieser die Hauptphase des Spiels: Reihum dürfen nun alle eine Aktion ausführen. Die Häufigste unter ihnen ist, eine Karte in die gemeinsame Auslage zu spielen. Die meisten Karten zeigen mehrere Symbole (der Hintergrund zählt auch dazu), und falls einmal drei identische Symbole (nicht Karten!) ausliegen, endet eine Mission umgehend als Misserfolg.
Einfach, oder? Dann spielt man halt keine Karten mit entsprechenden Symbolen aus!
Nun ja, eigentlich schon, aber es gibt da diese Karten mit Fallensymbol. Wird so eine ausgespielt, muss man sofort die oberste Karte vom Herausforderungsstapel ziehen und ebenfalls auslegen. Wenn’s dumm läuft und man so eine Fallenkarte zu spät auslegt, kann’s ebenfalls sofort dunkel werden….

Na, dann spielt man Fallenkarten halt zu Beginn einer Runde aus!
Schon richtig, aber hatte ich die „Schweren Schläge“ schon erwähnt? Es handelt sich um Karten, die nicht in die allgemeine Auslage gelegt werden, sondern dem ausspielenden Soldaten zugeordnet sind. Und die haben ganz besonders „lustige“ Effekte (siehe Bild). Taktischerweise sollten solche Karten ebenfalls eher früh (oder dann gar nicht mehr) gespielt werden, damit man weiss, wer Hilfe benötigt…

Andere Aktionsmöglichkeiten sind die Verwendung des eigenen Kleeblatts (wirft eine Karte mit entsprechendem Symbol aus der Auslage ab), womit das Grünzeug dann allerdings erst mal verbraucht ist, oder das Halten einer motivierenden Ansprache, sofern man im Besitz eines Ansprachetokens ist. Dies erlaubt die Ansage eines Symbols, alle anderen Soldaten dürfen dann eine entsprechende Karte wirkungslos aus der Hand abwerfen.
Die letzte Aktionsmöglichkeit ist eigentlich die Wichtigste: Der persönliche Rückzug! Wählt man diese Option zu früh, verbleiben zu viele ungespielte Karten in der Hand, wählt man sie zu spät, gefährdet man die ganze Mission, denn eine Mission ist nur dann erfolgreich, wenn alle Soldaten wieder die eigenen Linien erreicht haben, bevor ein Symbol drei Mal eingeschlagen hat.
Wer sich zurückzieht, legt sofort einen der Unterstützungsmarker verdeckt vor sich ab. Dieser besagt, welchem Spieler er moralischen Zuspruch zukommen lässt. Haben sich alle rechtzeitig von der Frontlinie entfernt, endet die Mission als Erfolg. Alle Supportmarker werden aufgedeckt, und falls nun jemand aus der Gruppe die einfache Mehrheit an Support erhält, darf er bis zu zwei seiner „Schweren Schläge“ abwerfen oder sein Kleeblatt reaktivieren. Gibt es keine Mehrheit, kommt niemand in den Genuss dieser moralischen Erbauung.
Einfach, oder? Dann spricht man sich halt ab!
Ups – ich glaube ich habe vergessen zu erwähnen, dass man während des Spiels nicht über die Karten sprechen darf – auch nicht andeutungsweise. De facto also gar nicht!
Und dieser Umstand macht aus dem bereits speziellen Les Poilus erstaunlicherweise etwas ganz Besonderes. Trashtalk und Ähnliches ist bei kooperativen Spielen sowieso eher wenig gefragt – aber in diesem Fall übernimmt die Stille am Tisch eine ganz besondere Funktion. Ob Müdigkeit, Verzweiflung oder Artilleriegetöse – die Unfähigkeit, sprachlich zu kommunizieren, ist thematisch und emotional passend; umso wichtiger wird das stumme Verständnis. „Ich sehe, wo dein Problem ist, und ich nehme darauf Rücksicht!“ – sofern ich selber dazu überhaupt noch in der Lage bin…
Les Poilus ist nicht nur thematisch bedrückend, es zu gewinnen ist schwer. Sauschwer. Frustrationsintolerante Personen sollten das Spiel nur in Begleitung Erwachsener angehen. Das Spiel haut und schiesst gnadenlos auf die Spieler ein, die einzige positive Karte nennt sich – wie erwähnt – „Frohe Weihnachten“, ansonsten erhält man den Eindruck, als wäre man den Spielfaktoren Kälte, Hitze, Giftgas und Artilleriegeschosse mehr oder weniger schutzlos ausgeliefert. Wer sich davon nicht ausreichend abgeschreckt fühlt, lese auch noch den letzten Absatz…
Les Poilus ist ein Spiel der besonderen Art. Wer sich auf das Erlebnis einlässt, macht eine Erfahrung, die man sonst an Spieltischen kaum findet. Neben der taktischen Herausforderung ist Les Poilus eine Übung in Einfühlungsvermögen, Zusammengehörigkeit und Freundschaft.
Auf dass sie stärker sein mögen als der Krieg!
Ich habe es auch schon zu zweit gespielt. Funktioniert nicht schlecht. Bei der Unterstützung kriegt man halt von einem KI-Kollegen Unterstützungsplättchen zugespielt. Chaos vorprogrammiert.