Scythe: Ist das Spiel mit der Sichel auch der Hammer?

Scythe (engl. für Sense; das Logo auf dem Schachtelcover zeigt allerdings eher eine Sichel…) ist ein Spiel, das sich seit seinem Erscheinen 2016 immer auf den vordersten Rängen der Hotness-Liste von Boardgamegeek tummelt. Ist das bloss Hype oder ist das Spiel mit der Sichel auch ein Hammerspiel?

Neben Jamey Stegmaier als Designer, der unter anderem bereits Viticulture erschaffen hat, nennt das Schachtelcover Jakub Rozalski nicht wie üblich einfach als Grafiker, sondern er zeichnet auch für den Weltenbau verantwortlich. Die Welt von Scythe wird einem nicht etwa langatmig via Romanvorlage oder Comicheft näher gebracht, sondern wohltuend kurz zu Beginn des Regelhefts auf gerade mal vier Zeilen. Da erfahren wir, dass die Asche des Grossen Krieges noch immer den Schnee verdunkelt im Europa der 1920-er Jahre. Ein kapitalistischer Stadtstaat namens „Die Fabrik“, der für den Krieg Kampfmechs herstellte, wurde zerstört. Bis zu fünf Fraktionen mit ihren Anführern versuchen, das entstandene Machtvakuum zu füllen und sich Gebiete unter den Nagel zu reissen, um ihr Reich zum mächtigsten Osteuropas zu machen. Darauf arbeiten die 1 bis 5 Spielenden hin.

Die kurze Hintergrundgeschichte als Weltenbau zu bezeichnen, mag etwas vollmundig sein, aber das ist egal. Das Thema passt und unterstützt die Spielmechanismen sehr gut. Hervorragende Arbeit hat Jakub Rozalski als Grafiker geleistet: In einer trügerischen ländlichen Idylle ist der Himmel stets düster dräuend bewölkt und Kriegsgerät im Hintergrund allgegenwärtig. Die stimmungsvollen Illustrationen stehen dabei dem Spielspass nie im Weg, sondern die Symbolik unterstützt vielmehr die Abläufe ausgezeichnet. Das gesamte Spielmaterial mit detaillierten Miniaturen aus hochwertigem Plastik (Charaktere und Mechs) und aus Holz (Ressourcen und Arbeiter) gefällt rundum.

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Einer der fünf Charaktere: Gunter, der Sachse. Nicht Gunter Sachs.

Welches Ziel verfolgen wir als Spielende auf dem Weg zum mächtigsten Reich? Auch in der alternativen Welt von Scythe geht es ganz vertraut um das liebe Geld. Wer zum Schluss am meisten davon hat, gewinnt. Bares bekommen wir vor allem durch das Kontrollieren von Territorien, das Sammeln von Sternen (dazu gleich mehr) und Ressourcen können am Schluss ebenfalls in Münzen umgetauscht werden. Ein wichtiger Faktor (auch im mathematischen Sinn) ist dabei, wie beliebt ich bin: Der Grad meiner Popularität dient zum Schluss als Multiplikator bei der Berechnung meiner spielerischen Fortschritte. Bin ich zwar erfolgreich, aber äusserst unbeliebt, zahlt sich dies am Ende oft nicht aus. (Wir lernen was fürs Leben bei diesem Spiel.)

Auf dem Weg zur grossen Geldscheffel-Schlussabrechnung versuchen wir, Sterne zu ergattern. Diese kriegen wir in folgenden Disziplinen: Wir schalten alle Upgrades auf unseren Fraktionstableaus frei, lassen alle unsere Mechs aufs Spielfeld los,  bauen alle unserer vier Gebäude, bringen alle unsere Rekruten ins Spiel, setzen alle unsere Arbeiter ein, erfüllen eine unserer Missionen, gewinnen Konflikte, erreichen das Maximum an Beliebtheit oder an Macht.

Also, auf in das Getümmel im alternativen Europa! Der Weg dazu wird einem von einem hervorragenden Regelheft geebnet (andere Verlage dürfen sich gerne Notizen machen). Bereits nach einmaliger gründlicher Lektüre der 31, mit klaren Beispielen reich illustrierten Seiten war es mir möglich, das Spiel anhand der ebenfalls beiliegenden Kurzanleitung vollständig zu erklären. Das ist für ein Spiel, das immerhin 3.31 Punkte (von 5) in der Komplexitätsskala von Boardgamegeek auf den Zähler wuchtet, wirklich aussergewöhnlich. Zusätzlich werden die Spielenden mit Übersichtskarten unterstützt, die das Wichtigste nochmals in aller Kürze verständlich zusammenfassen. Ergab sich während des Spiels trotzdem mal eine Detailfrage, konnte die Antwort immer rasch in den gut strukturierten Regeln gefunden werden.

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Wettervorhersage für das Spielertableau: Dauernebel mit Ascheregen.

Also, jetzt aber wirklich los! Spielt man allerdings in einer Runde, in der Spieler bereits beim Behändigen des Spielmaterials ihre Mechs auf das Brett stellen und laut „Kawumm! Ihaa!“ schreien, empfiehlt sich ein mahnendes Wort des Erklärbären, das Jamey Stegmaier am Herzen liegt: Scythe ist kein Kriegsspiel! Die Menschen in der Welt von Scythe haben lange wüste Schlachten geschlagen und sind nun kriegsmüde. Die Sense oder Sichel steht symbolisch dafür, dass sie sowohl als Waffe wie auch als Landwirtschaftsgerät gute Dienste leistet. Was? Soll ich meine Mechs etwa zum Rasenmähen einsetzen? Nein, nicht unbedingt. Muwinser und andere gröber besaitete Spielende sollten trotzdem weiterlesen. Konfliktpotenzial gibt es in Scythe genug, um auch als Kooperationsnichtversteher seine Freude zu haben.

Also los – aber jetzt wirklich! Wir erhalten zu Beginn einen von fünf Charakteren, die sich alle unterschiedlich spielen, da sie verschiedene Sonderfähigkeiten, Startausrüstungen und Boni aufweisen. Zufällig werden jedem Spielcharakter ein Fraktionstableau – die ebenfalls unterschiedlich sind – und zwei Missionskarten, von denen eine im Spiel idealerweise erfüllt werden sollte, zugelost. Ob soviel Variabilität bei einem Kickstarter-Spiel eines Kleinverlags schwant dem Kenner natürlich sofort Übles: Wie steht es um die Spielbalance? Hier gibt es aus den bisherigen Partien nur Erfreuliches zu berichten. Natürlich kann es passieren, dass ich eine Mission mal eben im Vorbeigehen erledigen kann, während ein anderes Ziel nur mühsam erarbeitet werden kann. Das war bei unseren Runden aber nie ein ernsthaftes Problem. Und wenn alle Spieler reihum das Gefühl haben, die anderen hätten viel die besseren Charaktere und Voraussetzungen, ist das immer ein untrügliches Zeichen für eine gute Balance bei einem asymmetrischen Spiel. Jamey Stegmaier hat hier hervorragende Arbeit geleistet.

Zu Beginn stellen wir unseren Charakter auf das Startfeld unserer Fraktion auf dem Brett und erhalten zwei Arbeiter. Und was tun wir ab jetzt? In jedem Zug müssen wir uns auf unserem Fraktionstableau für eine Aktion entscheiden, wobei wir nie zweimal hintereinander die gleiche wählen dürfen (auch wenn wir uns oft genau das sehnlich wünschen). Bei allen Fraktionen sind die möglichen Aktionen im Grundsatz gleich: Wir können unsere Figuren auf dem Brett bewegen, Münzen erhalten, Machtpunkte sammeln, auf Feldern mit Arbeitern Ressourcen produzieren, Geld gegen beliebige Ressourcen eintauschen oder unsere Beliebtheit gegen Bezahlung steigern. Alternativ oder zusätzlich zu diesen Aktionen, die sich im oberen Teil unseres Tableaus finden, können wir die jeweils zugehörigen Aktionen in der unteren Hälfte ausführen: Wir können unser Tableau upgraden, was die Aktionen der  oberen Hälfte mächtiger macht und gleichzeitig den Ressourcenverbrauch für die Aktionen im unteren Bereich verringert. Oder wir können einen unserer vier Mechs aufs Spielfeld bringen. Oder wir können eines von vier unserer Gebäude bauen, die uns verschiedene Vorteile gewähren. Oder wir können einen Rekruten anheuern, der uns beim Ausführen der zugehörigen Aktion einen Bonus verschafft – von dem aber leider auch unsere Sitznachbarn profitieren. „Oder“ ist dabei das Schlüsselwort: Immer müssen wir auswählen. Dabei möchten wir doch alles gleichzeitig tun.

Aha, wir produzieren also mit Arbeitern auf dem Spielfeld je nach Terrain unterschiedliche Ressourcen, die wir dann zu unserem Vorteil verbrauchen. Das tönt ganz nach klassischem Ressourcensammel- und Aufbauoptimierspiel. Genau: Im Kern geht es bei Scythe um diese altbewährten Spielmechanismen. Das Ganze ist garniert mit einem Schuss Gebietskontrolle. Es gibt hier also nichts wirklich Neues unter der verdunkelten Sonne des alternativen Europa. Das ist für mich bei diesem Spiel jedoch kein Manko: Die Mechanismen werden grossartig ineinander verzahnt.  Das ganze Spiel läuft dabei gerade wegen der an sich bekannten Spielelemente flüssig und selbst mit etwas grüblerischen Naturen am Tisch relativ zügig ab. Wenn man das Ganze bei höherer Spielerzahl beschleunigen will, können die Spielenden die meisten ihrer Aktionen sogar parallel ausführen.

Schön, aber ich will jetzt endlich meine Mechs einsetzen! Kawumm!

Also gut: Mit den Mechs kommt die Bedrohung ins Spiel. Ziehe ich einen Mech in ein Feld mit Arbeitern einer anderen Fraktion, müssen diese kampflos das Feld räumen und zurück auf ihr Heimatfeld. Die bereits produzierten Ressourcen bleiben auf dem Feld liegen und geraten so  unter die Kontrolle des Angreifers. Ein voller Erfolg für den Gewinner! Tja, die Kehrseite ist, dass wir pro verscheuchtem Arbeiter einen Punkt unserer Popularität verlieren. Wie wir weiter oben erfahren haben, ist unser Beliebtheitswert am Schluss der Multiplikator für unsere Spielerfolge. Da haben wir also das Dilemma: Hole ich als dreckigen Lohn meiner Aggression so viele Vorteile, dass mir meine Umfragewerte zur Popularität schnuppe sind? Oder bin ich der gütige Herrscher der Herzen, rackere mich aber dafür mit ehrlicher Fleissarbeit auf dem Spielfeld dumm und dämlich ab?

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Weiss freut sich auf ein Tech-Mechtel mit Schwarz.

Das ständige Abwägen zwischen Friedefreudeeierkuchen und aggressivem Vorpreschen prägt das grundsätzliche Spielgefühl von Scythe. Verschärft zeigt es sich, wenn ich auf einen fremden Charakter und gegnerische Mechs treffe. Diese lassen sich nicht wie Arbeiter einfach auf die Kappe geben, sondern es kommt zum Duell. Der Kampfmechanismus ist dabei ganz einfach: Auf einem Drehrad stelle ich geheim ein, wie viele meiner Machtpunkte ich einsetzen will. Und da ist er wieder, der Zwiespalt: Die Machtpunkte, die ich in den Kampf werfe und dabei auf jeden Fall verliere, sind die gleichen Punkte, die mir einen der begehrten Sterne geben, wenn ich eine gewisse Anzahl davon spare. Zu den Machtpunkten, die ich  im Kampf einsetze, darf ich pro kämpfende Einheit zusätzlich eine Kampfkarte versteckt einsetzen, die mir bis zu fünf Punkte zusätzlich gibt. Am Schluss wird der Sieger ganz simpel ermittelt, indem man die Punkte addiert. Und dieser einfache Kampfmechanismus soll im Ernst spannend sein? Ja, sogar sehr! Der Clou liegt im Bluffen: Will ein offensichtlich stärkerer Gegner dieses Gefecht tatsächlich auch gewinnen? Oder will er seine Machtpunkte sparen und mich dazu animieren, mich bei der Verteidigung unnötig zu verausgaben, nur damit er später vielleicht umso härter zuschlagen kann? Dadurch entsteht ein paranoides Spielgefühl, das wirklich toll ist.

Ist Scythe also doch ein kampflastiges kriegerisches Spiel? Nicht unbedingt. Bei uns gab es in einer Partie nur eine einzige bewaffnete Auseinandersetzung (mit schlimmem Ausgang für mich). Wer abartig vorbildlich friedliebend ist, kann sogar versuchen, sich auf der grossen Karte in einer Ecke ganz solitär um das Aufpäppeln seines Reiches nach dem Schaffeschaffe-Häuslebauen-Prinzip zu widmen und dem Hauen und Stechen aus dem Weg zu gehen. Wenn sich alle Beteiligten so verhalten, kann die ganze Partie ohne Interaktion über die Bühne gehen. (Mit solchen Leuten würde ich allerdings nicht spielen…). Doch der bravste Bausparplaner kann nicht in Frieden leben, wenn es seinen raffgierigen Nachbarn plötzlich nicht mehr gefällt. Und da das ganze Spielfeld von einem Tunnelsystem überzogen ist, kann es sehr schnell gehen, bis ein fremdes Heer unverhofft kräftig an die heimische Pforte klopft.

Damit man auch in Friedenszeiten nicht ganz isoliert vor sich hin dümpelt, setzt das Spiel ein paar Anreize, die Karte zu erkunden: Bin ich der erste Charakter, der bestimmte Felder auf dem Spielplan betritt, kommt es zu einer Begegnung. Ich ziehe zufällig eine Karte, die anstelle des üblichen Flavour-Textes in einer Abbildung eine ambivalente Situation festhält. Immer habe ich die Auswahl zwischen drei Verhaltensmöglichkeiten. Ein Beispiel: Treffe ich auf eine Bäuerin, die Gänse über die Strasse treibt, gewinne ich an Beliebtheit und zwei lausige Münzen, wenn ich fröhlich pfeifend warte. Ich kann aber auch ein paar Gänse als Nahrungsressourcen kaufen. Oder die Gänse stehlen und den daneben stehenden Bauernhof annektieren. Das kommt bei den Bauerntrotteln der empfindsamen Landbevölkerung weniger gut an und lässt meine Beliebtheit sinken, dafür kann ich aber eines meiner Gebäude kostenlos errichten.

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Behalte ich trotz Bärenhunter artige Tischmanieren? Immer diese Entscheidungen…

Als besonderen Anreiz finden wir in der Mitte des Spielfelds die Ruinen der Fabrik. Erreichen wir diese mit unserem Charakter, können wir ein zufälliges weiteres Feld für unser Fraktionstableau ergattern, was unsere Aktionsmöglichkeiten erfreulich erweitert. Wenn wir zudem zum Schluss des Spiels das Fabrikfeld kontrollieren, erhalten wir bis zu 15 Münzen. Dafür lohnt sich ein Überfall ehrliche Arbeit.

Das Bauen und Hauen endet abrupt, sobald ein Spielender seinen sechsten der oben erwähnten Sterne für erzielte Spielfortschritte einheimst. Während das Spiel zu Beginn ziemlich gemütlich Fahrt aufnimmt, kann es später plötzlich sehr schnell gehen. Das verschafft dem Spiel einen tollen Spannungsbogen. Die Spielenden beäugen misstrauisch alle gegnerischen Fortschritte und im Hinterkopf kreist ständig die Frage, wer wann das Spiel beenden will. Nein, bitte bitte einfach nicht diese Runde, ich möchte ja nur noch dieses einzige klitzekleine Gebäude bauen, um einen winzigen Vorteil zu erhalten. Und wieder weht der süsse Hauch der Paranoia durch die Welt von Scythe.

Wer auf seinen Trips in eine Spielwelt nur Freude an noch nie Dagewesenem und abenteuerlichen Innovationen  hat, dürfte an einer Reise in das Reich von Scythe keine besondere Freude haben. Wer hingegen auch auf vermeintlich ausgetretenen Trampelpfaden Augen für bestes Qualitätsdesign nach bewährter Manier hat, kann bedenkenlos ein Einweg-Ticket nach Osteuropa lösen. Die Reiseleitung soll es ab Juni 2017 endlich auch auf Deutsch geben. Für mich ist das Spiel mit der Sichel auf alle Fälle auch der Hammer.

3 comments

  1. Sehr schön geschriebene Rezession. Chapeau!

    Das Spiel klingt in der Tat sehr interessant. Das Thema empfinde ich persönlich sehr ansprechend mit dieser alternativen Vergangenheit und einige der Spielmechaniken sind mir auch auf den ersten „Blick“ sehr sympatisch: So zum Beispiel das Kampfsystem oder die Asymmetrie bei den Fraktionen. (Wer mich kennt weiss, dass ich dafür einen kleinen Fetisch habe :O) Die Erkundungs-Ereignisse sind auch mal eine nette Ergänzung. Einzig das „immergleiche“ Resourcensammeln hat man halt langsam etwas gesehen, aber wenn es gut in das Spiel integriert ist und das Setting ansprechend ist, dann macht auch das Spass.

    #klugscheissmodusON: PS: Als Bauerntrottel, äh empfindlicher Landbewohner müsste ich noch darauf hinweisen, dass eine Scythe doch eigentlich eine Sense ist. Eine Sichel wäre eine sickle. #klugscheissmodusOff

    1. Danke für den Kommentar. Der Hinweis, dass Scythe korrekt übersetzt Sense und nicht Sichel heisst, ist natürlich absolut richtig. Interessanterweise bildet das Logo von Scythe (das c mit dem Griff dran) allerdings aus meiner Sicht eine Sichel ab. Das habe ich im Beitrag nun präzisiert. Selber beackere ich nicht mal einen Schrebergarten und möchte als schollenferner Städter keinen Bauernaufstand anzetteln.

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