Werden solche Filme überhaupt noch gedreht? 1957 (also sogar noch deutlich vor meiner Zeit) erschien 12 Angry Men (die zwölf Geschworenen) – ich erinnere mich an meine erste Begegnung mit Henry Fonda als Juror Nummer 8, als ob es gestern gewesen wäre. Das Genre des Gerichtsfilms wurde durch ihn, noch während meiner Kindheit, in der Favoritenliste der Filmthemen ganz nach oben katapultiert. Ähnlich gut war dann noch Inherit the Wind (1960) – auch dieses Meisterwerk natürlich in schwarzweiss. Und nun versucht Hochverrat, diese Gerichtsatmosphäre auch spielerisch zum Leben zu erwecken – und zwar bunt!
Louis Riel mauserte sich in den Augen der vorwiegend kanadischen Öffentlichkeit vom verrückten Rebellen (um nicht zu sagen Terroristen) zum Nationalhelden. Wie man sein Leben und Werk auch betrachten mag: Tatsache ist, dass er im Juli 1885 im Rahmen eines de facto als Schauprozess zu bezeichnenden Verfahrens zum Tod verurteilt wurde. Eine Besonderheit bestand darin, dass lediglich sechs, statt wie üblich zwölf Geschworene beteiligt waren (die alle Englisch sprachen, während Riel französischer Muttersprache war) und auf Seiten der Anklage – um ganz sicher zu gehen – die Crème de la Crème der kanadischen Juristenzunft aufgeboten wurde.
In Hochverrat ist die Ausgangslage zwar historisch inspiriert, allerdings deutlich offener! In der Tat muss sich die Anklage mächtig ins Zeug legen, wenn sie einen Schuldspruch erreichen will. Und das will sie, denn damit gewinnt sie dieses Zweierspiel von Alex Berry, das kürzlich bei Victory Point Games bzw. Frosted Games (deutsche Ausgabe) erschienen ist. Erste Voraussetzung für eine Verurteilung sind ausreichend herbeigeschleppte Beweise. Diese werden auf einer Skala von 0 bis 4 registriert. Mindestens auf eine 2 muss es die Anklage schaffen, sonst wirft der Richter kurzerhand das ganze Gedöns unter schallendem Gelächter aus dem Saal.
Auf Seite der Verteidigung hält ein „Evidence of Insanity“-Track Hinweise auf Riels Unzurechnungsfähigkeit fest (ebenfalls von 0 bis 4). Je höher sein Anwalt diese Anzeige pushen kann, desto eher wird die Jury „nicht schuldig“ votieren. Aber beide Anzeigen sind nur Mosaiksteine im ganzen Prozess. Beginnen wir stattdessen mit den richtig fetten Brocken: Den Geschworenen!
Voir dire – Sag die Wahrheit! …
Zu Beginn werden 12 potentielle Jurymitglieder zufällig „konstruiert“. Jedes besteht aus drei Haupt- und zwei Nebeneigenschaften. Die Haupteigenschaften, die verdeckt zugeordnet werden, beinhalten die Religion (katholisch oder reformiert), Sprache (englisch oder französisch) sowie die Berufsgruppe (Bauer, Händler oder Beamter). Die beiden Nebeneigenschaften stehen für die Skepsis der Person (um Zweifler endgültig zu überzeugen, braucht es mehr Argumente) und die Überzeugungskraft des Geschworenen selber, die möglicherweise anlässlich der Juryberatung in der Diskussion mit Kollegen zum Tragen kommt.
Die erste Aufgabe von Anklage und Verteidigung nennt sich „Voir dire“ und beinhaltet die Auswahl der tatsächlich am Prozess beteiligten Jurymitglieder. Von den 12 werden 6 „entschuldigt“ – welche das sind, ist für beide Seiten sehr zentral. Der optimale Geschworene für die Anklage ist Beamter, englischer Muttersprache und protestantischen Glaubens. Für die Verteidigung gilt das Gegenteil: Sie sucht nach französischsprachigen, katholischen Bauern. Da diese Idealpersonen in freier Wildbahn kaum existieren, macht das Regelheft zu recht darauf aufmerksam, dass man sich in dieser Phase weniger darauf konzentrieren sollte, wen man behalten möchte, sondern eher, welche Geschworenen man auf keinen Fall im Prozess dabei haben will!

Denn wie gesagt: Die Haupteigenschaften aller potentiellen Jurymitglieder sind vorerst den Vertretern der Anklage wie der Verteidigung unbekannt. In dieser ersten Phase erhalten beide Spieler 7 Karten, von denen 2 direkt in die Reserve wandern um erst als Teile des Schlussplädoyers zum Einsatz zu kommen. Die meisten Karten erlauben es in dieser Phase, entweder eine oder mehrere Eigenschaften für beide Spieler sichtbar aufzudecken (reveal), oder sie geheim anzusehen (peek) und verdeckt zurückzulegen.

In Sachen Informationsgewinnung offeriert das Regelheft den Hobby-Juristen einen weiteren Tipp: Es sei sinnvoller, über viele potentielle Geschworene Teilinformationen zu erfahren, statt alles über wenige Personen. Dabei spielt auch die Häufigkeit der Eigenschaften eine zentrale Rolle. Die Hälfte der Bevölkerung sind Bauern, nur 17% sind Beamte. Da aber nicht alle Marker im Spiel sind, muss man auch hier mit statistischen Ausreissern rechnen und gut abwägen, was man wann erfahren möchte.
Direkt nach dieser ersten, kurzen Phase wird es ernst: Abwechslungsweise entlassen die beiden Kontrahenten nun Personen aus ihrer Pflicht, bis die 6 Geschworenen, die über Riels Schuld oder Unschuld entscheiden werden, definitiv feststehen.
Juror #11: I beg pardon…
Juror #10: „I beg pardon?“ What are you so polite about?
Juror #11: For the same reason you are not: it’s the way I was brought up.(12 Angry Men, 1957)
Für das weitere Verständnis müssen wir uns kurz den anderen Elementen des Spielplans zuwenden: Für jede der Haupteigenschaften existiert eine Anzeige, die angibt, wie deren Inhaber dem Fall gegenüber eingestellt sind. Höhere Werte bedeuten dabei „eher schuldig votierend“. Natürlich versucht die Verteidigung, entsprechende Anzeigen möglichst tief zu halten, die Anklage versucht das Gegenteil.

Dies geschieht in den folgenden Phasen des Spiels, genannt „Trial in Chief“. Hier werden Zeugen verhört, Beweise präsentiert, kurz: Anklage und Verteidigung ziehen ihre Show ab. Erneut erhalten beide Spieler 7 Karten und werden 5 davon spielen. Karten können dabei als Aktionspunkte oder als Ereignisse eingesetzt werden. Ereignisse sind üblicherweise stärker, jedoch nicht immer passend. Sie stellen Zeugenvernahmen, brillante Argumentationen und Ähnliches dar, und erlauben häufig das Verschieben der Eigenschaftsanzeiger oder das Vorbringen der von der Anklage dringend benötigten Beweise (bzw. Hinweise auf Riels Unzurechnungsfähigkeit). Spielt man eine Karte für ihren Aktionswert hat man die Möglichkeit, sich ein beliebiges Thema vorzuknöpfen und den entsprechenden Anzeiger zu verschieben. Nachdem man allerdings oft genug über ein Thema parliert hat, können’s die Geschworenen nicht mehr hören und wollen dazu nichts mehr wissen.
Eine weitere Option besteht darin, sich direkt an einen oder auch mehrere Geschworene zu richten und sie direkt zu beeinflussen, was durch entsprechende Marker angezeigt wird. Liegen genügend Marker („Locked“) auf einem Geschworenen, ist dieser vorerst überzeugt, und kann vom Gegner nur noch schwer beeinflusst werden.
… im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss.
(Ausspruch, mit dem Cato der Ältere 150 v.Chr. jede seiner Reden beendet hat)
Nach zwei solchen Durchgängen folgt die Krönung des Prozesses: Die Schlussplädoyers! Für diese stehen nun beiden Spielern lediglich jene 6 Karten zu Verfügung, die in den vorhergehenden Phasen beiseite gelegt wurden – es ist also sinnvoll, bereits von Anfang an in Hinblick auf diese starke letzte Möglichkeit der juristischen Einflussnahme hin zu arbeiten und sich entsprechend aufzumunitionieren.
In dieser Phase spielt zunächst die Anklage drei Karten, danach die Verteidigung alle sechs, und schliesslich wiederum die Anklage ihre letzten drei. Da hier die einzelnen Zeugen und Sachverständigen nicht mehr selber zu Wort kommen und einen enstprechenden Eindruck hinterlassen können, sondern die Juristen nur noch das bereits Gesagte zusammenfassen, liefert jede Karte (unabhängig vom aufgedruckten Wert) lediglich 2 Aktionen. Alternativ dazu können sie aber auch für ihre besonders starken „Plädoyer-Ereignisse“ eingesetzt werden, sofern die Karte dies für die eigene Seite zulässt. Nach Abschluss dieser Phase ist die Arbeit der Juristen getan.
Matthew Harrison Brady: Why is it, my old friend,
that you’ve moved so far away from me?
Henry Drummond: All motion is relative, Matt.
Maybe it’s you who’ve moved away by standing still.(Inherit the Wind, 1960)
Hat es die Anklage zu diesem Zeitpunkt nicht geschafft, die mindestens erforderlichen Beweise darzulegen (siehe oben), entscheidet der Richter auf sofortigen Freispruch. Andernfalls werden die Auswirkungen der beiden Tracks „Geisteszustand“ und „Beweise“ abgehandelt, bevor sich die Jury zur Beratung zurückzieht.
Hier findet nun ein kleiner Rollenwechsel statt: Aus den beiden Juristen werden „überzeugte“ Jurymitglieder. Befinden sich nämlich solche im Sitzungszimmer, können sie abwechselnd von den Spielern eingesetzt werden, um noch unentschlossene Jurymitglieder oder die Eigenschaftsanzeiger weiter zu beeinflussen. Dabei können durchaus auch Kettenreaktionen auftreten. Schliesslich folgt die Abrechnung.

Für jedes Jurymitglied wird nun festgestellt, wie es Riel beurteilt. Dazu werden die aktuellen Werte der drei Haupteigenschaften jeder Person summiert. Ist ein Jurymitglied von Riels Schuld überzeugt („Locked“ im Sinn der Anklage), wird dieser Gesamtwert verdoppelt, hält es ihn für unschuldig („Locked“ im Sinn der Verteidigung) wird er halbiert. Dazu zählt jeder rote (Anklage-) Beeinflussungsmarker als zusätzlicher Punkt, jeder blaue zieht einen Punkt ab. Bei einem Gesamttotal über alle Jurymitglieder von mindestens 100 Punkten wird Riel schuldig, ansonsten frei gesprochen.
High Treason ist definitiv ein ungewöhnliches Spiel! Ich weiss noch nicht, wie ausbalanciert die Siegchancen beider Seiten sind, bin aber auch nicht sicher, ob sie das um jeden Preis sein müssen. Die Phase der Juryauswahl mit ihrem „er weiss, dass ich weiss, dass er weiss“-Aspekt ist grandios spannend! Danach beginnt der Kampf um Mehrheiten und Effizienz, bei nach wie vor unvollständigen Informationen, also mit viel Pokeranteil!
Der Kampf um die Köpfe der Jury wird auch zum Spiel mit Wahrscheinlichkeiten, bei der Endabrechnung darf (oder muss) dementsprechend noch einmal mit Überraschungen gerechnet werden – und da ich spannende Überraschungen prinzipiell toll finde, gefällt mir auch Hochverrat ganz prima!
Für den Moment reichen mir dieser erfrischende Ansatz und das unverbrauchte Thema für eine klare Empfehlung, sich auf Victory Points Webseite wieder einmal genauer umzusehen.
Achtung: Victory Point Games ist ein Kleinverlag, der seine Spiele in einem speziellen Verfahren „on demand“ herstellt. High Treason kommt (leider) nur mit einem dünnen Kartonblatt als Spielbrett – was allerdings auch den Preis sehr tief hält. Von hoher Qualität sind allerdings die wie immer sehr dicken Spielmarker… einerseits. Andererseits muss man wissen, dass das Herstellungsverfahren zu einer (ehrlich gesagt) unglaublichen Sauerei führt, bis man die Marker aus ihrem Rahmen gebrochen und zunächst einmal gereinigt hat. Das hat allerdings selber einen gewissen Unterhaltungswert – und der Verlag liefert freundlicherweise ein Tüchlein mit :o) …
UPDATE vom 4.1.2018: Erfreulicherweise erscheint im März 2018 die deutschsprachige Version Hochverrat bei Frosted Games – mit verbessertem Material!
Jetzt hab ich grad Lust mal wieder meine ’12 angry men‘ DVD rauszukramen. Toller Film! (bin ich jetzt auch alt? :O)
Es spricht ja schon für Dich, dass Du den Film überhaupt KENNST – geschweigen denn selber im Regal stehen hast. Der andere ist wie gesagt auch sehr schön ;o)
Und ja, Du bist :oP