Die Suche nach dem „Grauen aus dem Eis“

Diese Geschichte basiert auf wahren Brettspiel-Begebenheiten.

Mein Name ist Darrell Simmons. Ich bin Berufsfotograf – ursprünglich spezialisiert auf Landschaftsfotografien. Aber seit dem Zwischenfall im Museum meiner Heimatstadt Arkham vor zehn Jahren habe ich ein neues Fachgebiet. Ich habe damals diese Gestalten mit eigenen Augen gesehen und weiss, dass ich sie mir nicht eingebildet habe – aber niemand glaubt mir. Als vor ein paar Tagen ein Notruf einer vermissten Expedition der Miskatonic Universität auftauchte, war mir eines klar: Es passiert schon wieder. Also machte ich mich auf den Weg nach Alaska – ausgerüstet mit meiner Kamera – um ein für alle Mal zu beweisen, dass ich nicht wahnsinnig bin.


Montag, 17. Oktober 1927 – Tag 1

Als ich das Lager der Expedition erreiche, herrscht panische Aufbruchstimmung. Die wenigen nicht verschwundenen Expeditionsteilnehmer – die meisten davon US-amerikanische Tagelöhner – machen sich so schnell wie möglich aus dem Staub.

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Auch der Pilot, der mich mit seiner Maschine hierher gebracht hat, ist nach einem kurzen Händedruck schnell wieder verschwunden. Die meisten werfen mir in der Eile noch einen verständnislosen Blick zu und brüllen, was ich denn hier zu suchen habe und ob ich nicht vom Grauen aus dem Eis gehört hätte. Natürlich habe ich das. Ich greife in meine Jackentasche und hole ein uraltes Foto hervor. Diese roten Augen. Ist es tatsächlich möglich, dass Ithaqua hier in Alaska aufgetaucht ist? Plötzlich zittert mein ganzer Körper. Was mache ich hier – ich bin doch nur Fotograf? Will und kann ich mich diesem Monster tatsächlich stellen, diesen roten Augen? Ich reisse meinen ganzen Mut zusammen und durchsuche das nunmehr leere Expeditionslager nach Gegenständen, die mir auf meiner gefährlichen Reise behilflich sein könnten.

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In einem Zelt, das Dr. Ashley Lott gehört zu haben scheint, entdecke ich zahlreiche Bücher mit merkwürdigen Zeichen und Markierungen. Haben sie etwas mit den gespenstischen Geschehnissen in der Region zu tun? Auch wenn die Wörter und Zeichen für mich keinen Sinn ergeben, packe ich sie allesamt in meinen Rucksack. Unter der Matraze finde ich zudem eine alte Schrotflinte, deren Nutzen ich besser einschätzen kann. Und auch die halbleere Whiskey-Flasche auf dem Schreibtisch wandert in meine Tasche – man weiss ja nie.

Aber was mache ich mir hier nur vor? Unverständliche Bücher, eine Schrotflinte und Whiskey werden nicht reichen, nicht gegen dieses Ungeheuer. Ich werde weitere Hilfe brauchen, und die gibt es hier nicht. Mit einem fahrtüchtigen Schneemobil mache ich mich auf zum nächstgelegenen Städtchen: Fairbanks…


Dienstag, 18. Oktober 1927 – Tag 2

Nach der gestrigen langen Reise durch den eisigen Winter Alaskas, erwache ich erst kurz vor Mittag. Mein Motelzimmer ist klein, schäbig und riecht – wie so viele vermietete Zimmer in den Vereinigten Staaten – nach Sex. Nach dem ausgiebigen Frühstück mit Würstchen, Speck und Spiegelei mache ich mich auf den Weg um das Stadtzentrum zu erkunden. Tatsächlich scheinen Hundeschlitten bei diesem Schnee das beste Fortbewegungsmittel zu sein. Ich komme an der wohl einzigen Bar der Stadt vorbei. Lautes Geschrei eines Handgemenges dröhnt durch die offene Tür auf die Strasse.

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Eine dunkle Gestalt steht an die Wand gelehnt neben der Tür. Sie ist mindestens zwei Meter gross und hat die Kapuze tief in das Gesicht gezogen. Sie gibt mir ein Zeichen näher zu kommen. Wegen mangelnder Alternativen mache ich vorsichtig einen Schritt auf die Gestalt zu. Als sie die Kapuze aus dem Gesicht zieht, kommt ein gezeichnetes und müdes Gesicht eines Inuits zum Vorschein. In gebrochenem Englisch stellt sich der Mann als Allakariallak vor. Er habe bereits auf mich gewartet und könne im Kampf gegen Ithaqua helfen. Ich bin überrascht, zugleich aber vor allem erleichtert, endlich einen Anhaltspunkt gefunden zu haben. Der Inuit betritt lautlos die Bar, in der sich weiterhin sechs Personen einen wilden Faustkampf liefern. Ohne zu zögern schreitet Allakariallak auf die kämpfende Gruppe zu und setzt mit seinen riesigen Händen und ohne grossen Aufwand gezielt drei Personen ausser Gefecht. Die drei anderen atmen tief durch, während Allakariallak ruhig mit ihnen spricht und dabei auf mich zeigt.

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Der erste wendet sich mir zu. „Sir William Brinton mein Name – zuständig für das Finanzielle“, sagt der gepflegte englische Mann mit Blut auf seinem teuren Hemd. „Vergessen Sie William. Ausser Geld hat er nicht viel zu bieten. Wenn Sie wirklich etwas Wichtiges brauchen, wenden Sie sich an Ruby Standish, Meisterdiebin“, erzählt die zweite Person, eine Frau mit schwarzen langen Haaren und gekleidet in ebenso dunkle Kleider. „Bill Morris, Abenteurer“, die dritte Person schüttelt mir die Hand. „Wir haben so lange gewartet – endlich kann es losgehen.“


Mittwoch, 19. Oktober 1927 – Tag 3

Es ist morgens um drei Uhr. Ich weiss nicht, ob mich mein Alptraum oder das merkwürdige Gemurmel aus einem der Nachbarzimmer geweckt hat. Ich liege weiterhin im Bett des Motelzimmers. Es sollte die letzte Nacht sein, denn in gut fünf Stunden mache ich mich mit meinen vier Gefolgsleuten auf den Weg in den Norden. Ich öffne den Vorhang meines kleinen Fensters, das einen Blick in eine verschneite Seitenstrasse gewährt. Die Nacht ist ruhig, die Strassen sind leer. Nur dieses Murmeln wird immer lauter und unheimlicher.

Ich verlasse leise das Zimmer, das ich hinter mir abschliesse. Drei Zimmer weiter lausche ich vorsichtig an die Tür. Ich halte den Atem an. Es hört sich nach vier oder fünf verschiedenen Stimmen an, die rythmisch einen fremdsprachigen Text wiedergeben. Als ich mich bereits wieder in mein Zimmer in Sicherheit begeben möchte, öffnet sich plötzlich die Tür. Ich stolpere in das Zimmer, das von einem grellen, grün-gelben Licht erhellt wird. Das Licht scheint mich zu umschlingen, und plötzlich stehe ich nicht mehr im Motelzimmer.

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„Du wirst die Ankunft von Ithaqua nicht verhindern können“, höre ich eine Stimme aus dem Licht, das allmählich schwächer wird. Kurz bevor es ganz verschwindet, erkenne ich fünf in Roben gekleidete Männer, die mich alle ausdruckslos anstarren. Dann sind die Männer und das Licht vollkommen verschwunden. Ich befinde mich in einem dunklen Raum. Nur das Licht weniger Kerzen ermöglicht es mir, die Grösse des Raums zu erahnen. Vorsichtig tappe ich an einer Steinwand entlang bis ich einen etwas helleren Raum erreiche. Ich kann eine Art Altar ausmachen, der von zahlreichen Kerzen umgeben ist. Auf dem Alter stehen drei Gegenstände: In der Mitte eine hölzerne leere Schale, rechts daneben ein flacher Stein und links ein verzierter Dolch. Als ich vor dem Altar stehe, spüre ich wie mich eine fremde Kraft dazu bringt, nach dem Dolch zu greifen. Es ist unmöglich gegen die Bewegung anzukämpfen. Als ich den Dolch in meiner rechten Hand halte, greift plötzlich die linke nach der Klinge. Ich schreie auf und versuche mit aller Kraft die Kontrolle wiederzuerlangen. Zitternd nehme ich die scharfe Klinge in die Hand und beginne sie fest zu umklammern. Nach gefühlt endlosen Sekunden quillt Blut zwischen meinen Fingern hervor und tropft in die Schale. Plötzlich erscheinen auf dem Stein feine, blaue Linien. Mit jedem Tropfen Blut, der in die Schale fällt, werden die Linien klarer, bis sie schlussendlich zu einem Pentagramm zusammenkommen. Endlich beginnt meine linke Hand die Klinge wieder loszulassen. Die Kontrolle über sie liegt jedoch weiterhin nicht bei mir. Denn anstatt mit dem Ärmel oder der Hosentasche die Blutung zu stoppen, nähert sie sich langsam und zitternd dem Stein – bis es zur Berührung kommt.

Plötzlich wache ich verschwitzt in meinem Motelzimmer auf. Ein panischer Blick auf die linke Hand lässt mich durchschnaufen – keine Narbe. Die Uhr am Handgelenk zeigt genau drei Uhr morgens. Als ich die Lampe auf dem Nachttisch einschalten will, erkenne ich einen blauen Schimmer. Er stammt von einem flachen Stein, darauf ein leuchtendes Pentagramm.


Donnerstag, 20. Oktober 1927 – Tag 4

Kurz nach acht Uhr verlasse ich endlich das Motel. Meine vier neuen Weggefährten erwarten mich bereits – tatsächlich mit einem Hundeschlitten. Über die nächtlichen Geschehnisse verliere ich vorerst kein Wort. Den leuchtenden Stein habe ich in meinem Rucksack verstaut. „Endlich, wir haben einen langen Weg vor uns“, begrüsst mich Bill Morris ungeduldig, eingepackt in einen warmen Ledermantel. Ohne weitere Worte steigen wir in den grossen Schlitten hinter den acht Hunden, die auf das Kommando von Allakariallak sofort losrennen. Auf verschneiten und mit herkömmlichen Fahrzeugen unpassierbaren Strassen bewegen wir uns in Richtung Norden, vorbei an den grössten Bäumen, die ich je gesehen habe. Das Ziel ist ein heiliger Ort nördlich des Polarkreises – das sagt zumindest Allakariallak.

Nach rund sechs Stunden Fahrt durch den tiefsten Winter erreichen wir am frühen Nachmittag tatsächlich eine vollkommen eingeschneite kleine Siedlung. Anzeichen, dass hier auch Leute leben, gibt es keine. „Wir werden hier die Nacht verbringen“, erklärt Allakariallak bestimmt in seinem holprigen Englisch, „wir suchen uns ein Haus, das uns warm hält.“

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Und das war schwieriger als erwartet. Die nächtliche, bittere Kälte schmerzt in allen Gliedern. Auch das Feuer, das wir in einem leeren Haus entfacht haben, hilft nur begrenzt. So entdeckt die Meisterdiebin Ruby Standish beim Wechseln ihrer durchnässten Handschuhe dunkelblaue Frostbeulen an mehreren Fingern. An ein Aufgeben und Umdrehen ist hier und jetzt aber trotzdem nicht zu denken, zu weit sind wir schon gekommen. Richtig schlafen kann in dieser Nacht keiner von uns. Immerhin steigt mit dem Anbruch des Morgens auch die Temperatur ein wenig an – und ein Schluck Whiskey lässt auch die Stimmung etwas steigen.


Freitag, 21. Oktober 1927 – Tag 5

Müde und von der Kälte geschwächt verlassen wir am nächsten Morgen unseren Unterschlupf. Zusammen machen wir unseren im Schnee versteckten Schlitten bereit. Auch die Hunde, die besser mit der Kälte umzugehen wissen als wir, wirken geschwächt und müde. Wir verteilen den letzten Proviant, der im Nu verschlungen wird. Als ich meinen Rucksack auf den Schlitten laden will, fällt der weiterhin blau leuchtende Stein heraus. Im Schnee scheint er noch heller zu leuchten. Allakariallaks Blick fällt blitzschnell darauf und sein Gesicht wird bleich. „Woher hast du das?“

Nachdem ich zögernd von meinem nächtlichen Abenteuer und meiner Reise durch das grün-gelbe Portal berichtet habe, übernimmt Allakariallak die Fortsetzung der Geschichte. „Das ist ein Älteres Zeichen“, sagt er mit ruhiger Stimme, „man braucht es, um einen Grossen Alten zu wecken.“ Es ist also wahr. Die Grossen Alten gibt es tatsächlich, und mit Ithaqua soll einer davon hervorgerufen werden. Was aber sollen wir mit dem Älteren Zeichen anstellen?

„Wir können den Stein aber auch benutzen, um seine Ankunft zu verhindern. Du hättest uns sofort davon erzählen müssen!“ Zum ersten Mal scheint Allakariallak ungeduldig und wütend zu sein. „Wir müssen so schnell wie möglich den heiligen Ort finden, es ist nicht mehr weit – aber uns läuft die Zeit davon.“ Innert Minuten sind wir mit dem Schlitten unterwegs, weiter nach Norden.

Eine knappe Stunde später hebt Allakariallak die Faust und pfeift, wodurch der Schlitten sofort stehen bleibt. „Wir sind da – aber nicht alleine“, flüstert der gross gewachsene Inuit. Tatsächlich ist aus dem Wald ein Rascheln zu hören, das zu unserer Beunruhigung immer lauter wird. Wir sitzen weiterhin im Schlitten, ohne ein einziges Geräusch von uns zu geben. Dann springt plötzlich eine riesige Bestie aus dem Wald auf uns zu. Ich kann nur die roten Augen ausmachen bevor ich mich unter dem Schlitten in Sicherheit bringe. Sir William Brinton ist nicht so schnell. Die Bestie fährt die riesigen Krallen aus und schleudert den Engländer mit einer ungeheuren Wucht vom Schlitten. Der Schnee rund um den Aufprall färbt sich innert Sekunden rot und William bleibt reglos liegen.

„Das ist der Vorbote von Ithaqua! Wir haben den Ort gefunden! Greift die Bestie an!“, ruft Allakariallak durch das Schneegestöber und wirft einen Speer, der im weissen Fell stecken bleibt. Die Bestie gibt ein lautes Brüllen von sich, setzt aber zum nächsten Angriff an. In diesem Moment kommt Bill Morris mit seiner Pistole angerannt und verpulvert sein ganzes Magazin.

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Ich erinnere mich an meine Schrotflinte aus dem Lager, die ich an den Rucksack geschnallt habe. Ich nehme allen Mut zusammen und krieche unter dem Schlitten hervor. Die Bestie rennt auf Bill Morris zu, der mit zitternden Händen versucht seine Pistole neu zu laden. Ich nehme die Schrotflinte und lasse den Rucksack auf den Boden fallen. Der Stein rollt aus dem Rucksack und leuchtet nun so hell wie noch nie. Sofort – rund drei Meter vor Bill Morris – steht die Bestie still, gibt ein weiteres Brüllen von sich und dreht sich zu mir um. „Die Bestie darf nicht an Stein kommen!“, ruft mir Allakariallak zu. Ich lade die Schrotflinte und ziele zitternd auf die zwei grossen roten Augen. „Geduld! Geduld!“, rede ich mir Mut zu und lasse die Bestie näher kommen. Ich spüre wie mein Herz rast. Noch ein wenig näher! Ich gebe langsam Druck auf den Abzug und sehe wie die erste Ladung Schrot das Gesicht der Bestie zerfetzt. Ich lade schnell nach und versenke auch die zweite Ladung. Die Bestie gerät ins Taumeln und fällt vor mir hin – die Augen erloschen.

Nach einigen ruhigen Sekunden beginnt die Erde plötzlich zu beben. Die Erschütterung scheint vom mysteriösen Stein auszugehen, auf dem nun kein Pentagram mehr zu sehen ist. Das Beben wird immer stärker, bis der Stein in einem grellen blauen Licht zu explodieren scheint. Das Licht reicht einige Sekunden bis zum Himmel, ehe es sich mit einer riesigen Druckwelle auflöst. Noch einmal bringen wir uns hinter dem Schlitten in Deckung, bevor Totenstille einkehrt – und der Stein verschwunden ist. Ich sehe noch das Lächeln auf Allakariallaks Gesicht, bevor ich völlig erschöpft in den Schnee sinke…


Donnerstag, 4. März 1965 – Heute

Fast 40 Jahre sind vergangen, ohne eine einzige Nacht, in der ich nicht an den Kampf gegen Ithaqua, den Tod von William Brinton oder diese leuchtenden Augen gedacht hätte. Von Ruby Standish, Bill Morris oder Allakariallak habe ich seither nicht mehr gehört. Es waren ruhigere Jahre – ich geniesse nun vor allem meine Enkelkinder. Und doch fühle ich seit einigen Wochen eine gewisse Unruhe. Diese merkwürdigen Geschichten aus dem Nachbardorf Dunwich sind mir nicht ganz geheuer…

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Der Autor hält grundsätzlich nicht viel von Erweiterungen. Aber die Ausnahme bestätigt die Regel. Wer Ältere Zeichen mag, soll sich bitte auch gleich die Erweiterung Das Grauen aus dem Eis mit einpacken. Die Erweiterung bringt die Thematik und Spannung mit, die wir von Arkham Horror und Villen des Wahnsinns bereits kennen.

Wie findet ihr die Ältere Zeichen-Erweiterung Das Grauen aus dem Eis? Lasst es uns in den Kommentaren wissen…

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